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Militärischer Einsatz, um "unsere" Interessen zu wahren
Der Bundespräsident in Afghanistan
Ein Land unserer Größe muss auch wissen, dass im Zweifel auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren.


22.05.2010
Bundespräsident Horst Köhler: "Wir haben Verantwortung."
(Bild: AP) Bundespräsident Horst Köhler: "Wir haben Verantwortung." (Bild: AP)

Köhler: Mehr Respekt für deutsche Soldaten in Afghanistan >hören

Bundespräsident fordert Diskurs in der Gesellschaft

Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke

Die Bundeswehr leiste in Afghanistan Großartiges unter schwierigsten Bedingungen, sagt Bundespräsident Horst Köhler nach einem Besuch im Feldlager Masar-i-Scharif.

Christopher Ricke: Herr Bundespräsident, Sie haben heute in Masar-i-Scharif von großem Respekt und tiefem Vertrauen in die Professionalität und Gewissenhaftigkeit der Soldaten gesprochen, Sie haben aber diesen Termin der Reise auch sehr bewusst gewählt, weil Sie gesagt haben, man soll besser hinsehen in Afghanistan. Warum dieser Zeitpunkt?

Horst Köhler: Nun, ich habe im letzten Sommer 2009 besucht in Sachsen-Anhalt ein Trainingszentrum der Bundeswehr, Trainingszentrum für den Einsatz in Afghanistan, habe mich also sozusagen dort in der Theorie mit den Soldaten kundig gemacht über ihre Ausbildung, über ihre Ausrüstung, und ich wollte das bei geeigneter Gelegenheit dann auch in der Praxis erkunden. Und jetzt auf dem Rückflug von Schanghai ist das leicht möglich gewesen, und deshalb habe ich die Gelegenheit genutzt, Masar-i-Scharif aufzusuchen, weil es mir wichtig ist, dass wir genauer wissen, was unsere Soldaten beschwert, was sie erreichen können nach ihrer eigenen Einschätzung, was sie erreichen sollen nach dem Mandat der Zielsetzung, der politischen Zielsetzung dieses Mandats und wie das in der Realität aussieht. Ich glaube, dass die Soldaten eines in jedem Fall verdient haben: Dass man sie ernst nimmt in der Schwierigkeit ihrer Aufgabe, dass man ihnen Respekt und Anerkennung zollt für das, was sie leisten, weil sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen - und das wollte ich hauptsächlich mit meinem Besuch dann auch zum Ausdruck bringen.

Ricke: In der politischen Debatte wird auch darüber nachgedacht, ob das Mandat, das die Bundeswehr in Afghanistan hat, ausreicht. Brauchen wir ein klares Bekenntnis zu dieser kriegerischen Auseinandersetzung und vielleicht auch einen neuen politischen Diskurs?

Köhler: Nein, wir brauchen einen politischen Diskurs in der Gesellschaft, wie es kommt, dass Respekt und Anerkennung zum Teil doch zu vermissen sind, obwohl die Soldaten so eine gute Arbeit machen. Wir brauchen den Diskurs weiter, wie wir sozusagen in Afghanistan das hinkriegen, dass auf der einen Seite riesige Aufgaben da sind des zivilen Aufbaus, gleichzeitig das Militär aber nicht alles selber machen kann, wie wir das vereinbaren mit der Erwartung der Bevölkerung auf einen raschen Abzug der Truppen. Und aus meiner Einschätzung ist es wirklich so: Wir kämpfen dort auch für unsere Sicherheit in Deutschland, wir kämpfen dort im Bündnis mit Alliierten auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen. Alles das heißt, wir haben Verantwortung. Ich finde es in Ordnung, wenn in Deutschland darüber immer wieder auch skeptisch mit Fragezeichen diskutiert wird. Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.

Ricke: Muss sich Deutschland daran gewöhnen, dass Soldaten, die in einem bewaffneten Konflikt stehen - manche nennen es einen Krieg - auch tot aus dem Einsatz nach Deutschland zurückkommen?

Köhler: Wir haben ja leider diese traurige Erfahrung gemacht, dass Soldaten gefallen sind, und niemand kann ausschließen, dass wir auch weitere Verluste irgendwann beklagen müssen. Ich habe mich davon überzeugen können in Marar-i-Scharif, dass von der militärischen Führung wirklich jede Professionalität und Gewissenhaftigkeit sowohl in der Frage der Ausbildung als auch der Ausrüstungsbedürfnisse vorhanden ist. Aber es wird wieder sozusagen Todesfälle geben, nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall, mal bei zivilen Aufbauhelfern. Das ist die Realität unseres Lebens heute. Man muss auch um diesen Preis - sozusagen seine am Ende Interessen wahren - mir fällt das schwer, das so zu sagen, aber ich halte es für unvermeidlich, dass wir dieser Realität ins Auge blicken. Deshalb halte ich es auch nach der Diskussion über den Begriff Krieg oder kriegsähnlichen Zustand oder bewaffneter Konflikt für ganz normal, wenn die Soldaten in Afghanistan von Krieg sprechen, und ich habe es auch für normal gehalten, dass ich auch in dem Gespräch mit ihnen dann nicht eine verkünstelte andere Formulierung gewählt habe.

(Vollständige und korrigierte Abschrift)

Es handelt sich um eine gekürzte Fassung eines Interviews mit Bundespräsident Horst Köhler. Ein weiterer Teil wurde im Deutschlandfunk gesendet

Köhler-Interview im Deutschlandfunk


Presseschau:
www.dradio.de/presseschau - Freitag, 28. Mai 2010 07:05 Uhr

"Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung, die geostrategischen Interessen Deutschlands endlich offen zu benennen.
Es ehrt den Bundespräsidenten, dass er einen Beitrag zu dieser neuen Offenheit leisten wollte. Allein: Mit seinem missverständlichen Radiointerview hat Horst Köhler sich selbst und der Regierung einen Bärendienst erwiesen. Aus seinen ungelenken Formulierungen lässt sich herauslesen, dass die Bundeswehr am Hindukusch einen Krieg um offene Handelswege führe. Deren Sicherung kann auch im nationalen Interesse liegen, wie der Anti-Piraten-Einsatz am Horn von Afrika belegt. In Afghanistan aber geht es um anderes. Horst Köhler ist kein Meister der Rhetorik, nicht in seinen Reden, erst recht nicht abseits vorgefertigter Manuskripte. Das ist schade. Bedenklich bis ärgerlich aber wird es, wenn der Präsident durch rhetorische Fehltritte zum unfreiwilligen Kronzeugen all jener wird, die schon immer dagegen waren, dass Deutschland seiner internationalen Verantwortung nachkommt", meint DIE WELT.

 

Die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera sieht es ähnlich:
"Ein Präsident verfügt über die Macht des Wortes. Wenn sie ihm entgleitet, wenn sie zum Bumerang wird, ist es blamabel. Des Wortes besonders mächtige Präsidenten - wie Heuss, wie von Weizsäcker - verliehen dem Amt Profil. Wer erklären lassen muss, was er gemeint haben will, macht keine gute Figur", findet die OSTTHÜRINGER ZEITUNG.

 

Die HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE ALLGEMEINE aus Kassel schreibt:
"Einiges, wenn nicht alles spricht dafür, dass der Bundespräsident schlecht beraten war, als er eine Debatte darüber empfahl, ob wir im Ausland nicht auch mit Feuer und Schwert holen könnten, was auf dem Wege des Rechts und des freien Handels nicht zu erlangen wäre. In dieser Frage sollte in unserem Staat eigentlich keine Debatte nötig sein. Wohl aber muss man fragen, ob dieser Bundespräsident politisch einschätzen kann, was er zuweilen so sagt", heißt es in der HESSISCHEN/NIEDERSÄCHSISCHEN ALLGEMEINEN.

 

Die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG aus Heidelberg geht auf die Rolle der Opposition ein:
"Offenbar wollen ihn seine Kritiker bewusst missverstehen. Die Linke jubelt, Köhler habe endlich zugegeben, dass in Afghanistan ein imperialistischer Krieg um Rohstoffe tobe. Afghanistans wichtigstes Exportgut ist übrigens Opium. Nichts, worum wir kämpfen würden - oder müssten. Es kommt auch so zu uns", bemerkt die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG.

Was schon im Weißbuch stand:
Das HANDELSBLATT zeigt Verständnis:
"Horst Köhler hat nur das wiederholt, was schon im Weißbuch der Großen Koalition stand, nämlich dass es zu den Aufgaben der Bundeswehr zählt, Krisenregionen militärisch zu stabilisieren. Und die geltende EU-Sicherheitsstrategie erkennt ausdrücklich an, dass die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen sowie die Sicherung von Handelswegen eine der sicherheitspolitischen Herausforderungen ist. Köhlers Äußerung ist so gesehen eine Binsenweisheit", stellt das HANDELSBLATT fest.



Die Berliner Kriegsdebatte
01.06.2010
BERLIN
(german-foreign-policy) - Nach dem Verlust seines Rückhaltes in maßgeblichen Teilen des Berliner Establishments hat Bundespräsident Horst Köhler am gestrigen Montag seinen Rücktritt erklärt. "Kamerad Köhler: Bitte wegtreten!" hatte eine der einflussreichsten deutschen Zeitungen bereits vor Tagen im Kommandoton getitelt. Der Präsident habe bei seinem Afghanistan-Besuch "dies und das" über den Krieg am Hindukusch "dahergefloskelt", kritisierte das Blatt Köhlers als mangelhaft empfundene Unterstützung für die Bundeswehr. Während es in Berlin offiziell heißt, Köhlers entscheidender Fehler sei es gewesen, Wirtschaftsinteressen als Kriegsgrund zu nennen, findet sich ebendiese Aussage in zentralen handlungsleitenden Dokumenten der Bundesregierung. Tatsächlich ist die Berliner Kriegsdebatte schon längst fortgeschritten und nennt geostrategische Vorteile in der Rivalität gegenüber China ebenso als Motiv für Militäreinsätze wie die Stärkung staatlicher Kooperation innerhalb der EU. Die Berliner Publizistik kündigt neuen Imperialismus und eine Wiederkehr des Kolonialismus an, fragt, ob "gescheiterte, verlorene oder schlichtweg lebensunfähige Staaten nicht mit einem Dasein als Protektorat besser bedient" seien, und denkt ausdrücklich über künftige "Energiekriege" nach. Das weltpolitische Ausgreifen Berlins geht in Teilen der Regierungsapparate mit einer deutlichen Verschiebung nach rechts einher. So hat sich der ranghöchste Militärberater der Kanzlerin schon vor Jahren als ein Anhänger Carl Schmitts zu erkennen gegeben. Schmitt wird von Kritikern als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus eingestuft.

Vitale Sicherheitsinteressen
Horst Köhler war in den vergangenen Tagen wegen seiner Äußerung heftig kritisiert worden, gegebenenfalls sei auch ein "militärischer Einsatz notwendig (...), um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege".[1] Damit bewegte Köhler sich explizit im Rahmen der öffentlich formulierten Handlungsgrundlagen deutscher Militärpolitik, die seit den 1990er Jahren von allen Bundesregierungen beachtet werden - von der gegenwärtigen Regierung ebenso wie von der großen Koalition und Rot-Grün. Schon im Jahr 1992 etwa hieß es in den damals neu verabschiedeten "Verteidigungspolitischen Richtlinien", zu den "vitalen Sicherheitsinteressen", von denen sich "die deutsche Politik" in ihrer Gesamtheit leiten lassen müsse, gehöre die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt".[2] Das aktuell gültige "Weißbuch" des deutschen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2006 legt fest, die "Sicherheitspolitik Deutschlands" werde nicht zuletzt von "dem Ziel geleitet", "den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern".[3]
 
Fregatten statt Panzer
Bereits kurz vor der Verabschiedung des "Weißbuchs" hatte der damalige Verteidigungsminister festgestellt: "Vor einem militärischen Einsatz müssen wir stets die Frage beantworten: Wo liegen unsere sicherheitspolitischen Interessen?"[4] Der Minister fügte damals hinzu, ohne auf größeren Widerspruch zu stoßen: "Zu denen gehört auch eine freie und sichere Energieversorgung. Wenn Terroristen etwa eine Meerenge kontrollieren, dann liegt es natürlich auch im deutschen Interesse, wieder für einen freien Handel zu sorgen." Seit den Festlegungen des Jahres 2006, die Köhler jetzt wiederholte, hat sich die militärpolitische Debatte jedoch weiterentwickelt. Ein Beispiel bot letzten Herbst der ehemalige Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium Ulrich Weisser. Wie Weisser in einer großen Tageszeitung erklärte, sei der Indische Ozean, in dem die deutsche Marine gegen Piraten operiert, nicht nur wegen seiner Bedeutung für den "Welthandel" von Bedeutung. Er sei insbesondere "entscheidend für das künftige Machtgefüge in Asien" und aus diesem Grund, mit Blick auf den Rivalen China, eine "Schlüsselregion".[5] Die Überschrift über Weissers Artikel zog die Konsequenzen: "Fregatten statt Panzer".
 
Nation in Fesseln
Über ökonomische und geostrategische Motive hinaus schreibt der amtierende deutsche Außenminister der EU-Militärpolitik eine bündnisstabilisierende Funktion zu. Die EU solle "ihrer politischen Rolle als globaler Akteur gerecht werden", sagte Minister Westerwelle im Februar bei der diesjährigen "Münchener Sicherheitskonferenz"; er erklärte, die dazu benötigte Militarisierung werde die EU enger als bisher zusammenschweißen: "Das europäische Projekt einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird ein Motor für das weitere Zusammenwachsen Europas sein."[6] Außenpolitik-Experten verlangen dabei ein entschiedenes Vorpreschen Berlins. Kürzlich hieß es in der führenden außenpolitischen Zeitschrift des Berliner Establishments, Deutschland sei nach wie vor als "Nation in selbstgelegten Fesseln" einzustufen; die außen- und militärpolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik dürften nicht länger "in das Prokrustesbett eines moralischen, bündnis- oder innenpolitischen Sachzwangs gepresst werden".[7] Es genüge nicht, die deutschen Kriege stets "mit dem Ruf 'Nie wieder Auschwitz'" zu begründen. "Staatsraison" müsse stets die Verteidigung des eigenen Gesellschaftsmodells sein, und "am wirksamsten tun wir das nach wie vor, indem wir es exportieren".
 
Neuer Imperialismus, neue Kolonien
Über die weltpolitischen Folgen der deutschen Kriegserwägungen lässt die Publizistik des Berliner Establishments niemanden im Unklaren. Erst vor kurzem erklärte der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium Friedbert Pflüger (CDU), der "dominierende Konflikt der Weltpolitik im 21. Jahrhundert" werde "der Kampf um Energie, Rohstoffe und Wasser" sein. "Energiekrisen und -konflikte" seien "unausweichlich", selbst "Energiekriege" könnten keinesfalls ausgeschlossen werden. Da genüge es "nicht, in Lateinamerika oder Afrika Gender-Projekte (...) oder Seminare zur kommunalen Selbstverwaltung zu finanzieren", warnt Pflüger: "Vielmehr muss die EU lernen, ihre Interessen auf den Schauplätzen der Welt zu definieren und durchzusetzen."[8] "Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts" kehrten zurück. Auf einen neuen Kolonialismus stimmen auch die Medien ein. So hieß es nach dem Erdbeben in Haiti in einer konservativen Tageszeitung, es mache das Wort "'Neokolonialismus' die Runde, doch diesmal mit einem positiven Beiklang" - es stehe "für nachhaltiges Engagement" und sei "nicht unfreundlich gemeint".[9] Eine linksliberale Wochenzeitung dachte, ebenfalls nach der Erdbebenkatastrophe, darüber nach, ob "gescheiterte, verlorene oder schlichtweg lebensunfähige Staaten nicht mit einem Dasein als Protektorat besser bedient" seien.[10] So sei es "eine offene Frage", "ob der Staat Haiti überhaupt wiederbelebt werden soll".
 
Verschiebung nach rechts
In Teilen der Berliner Regierungsapparate führt das weltpolitische Ausgreifen mittlerweile zu einer erkennbaren Verschiebung nach rechts. In diesem Frühjahr wurde bekannt, dass der ranghöchste Militärberater im Bundeskanzleramt nicht nur Beziehungen zu rechtslastigen Kreisen unterhielt, sondern sich darüber hinaus als Anhänger des berüchtigten Staatsjuristen Carl Schmitt zu erkennen gab. Kritiker bezeichnen Schmitt als Wegbereiter des Nationalsozialismus. In einem Text, den der Militärberater vor einigen Jahren in der Rechtsaußen-Zeitschrift Sezession abdrucken ließ, heißt es unter Bezug auf den Staatsrechtler, "Europa" müsse, "um auf Dauer zu bestehen, einen adäquaten Machtanspruch erheben und weltanschaulich begründen". In Deutschland hingegen zeige sich "die Handlungsunfähigkeit einer nachbürgerlichen politischen Klasse (...), deren Weltbild sich primär aus reeducation, aus den erstarrten Ritualen der Vergangenheitsbewältigung und Achtundsechziger-Mythologie speist." "Diese Verirrungen", schrieb der Militärberater, "bedürfen eines Gegenmittels, und in der politischen Philosophie Carl Schmitts könnte das zur Verfügung stehen". Dessen Ansatz allerdings stehe deutlich "im Gegensatz zur idealistischen Utopie einer weltweiten Entfaltung der Menschenrechte, eines friedlichen Ausgleichs der Kulturen und Zivilisationen sowie freizügiger, offener und multikultureller Gesellschaften."[11]
 
Bitte wegtreten!
Der Militärberater der Kanzlerin ist nicht zurückgetreten - im Gegensatz zu Köhler, dem die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung den Rücktritt schon vor einigen Tagen mit dem Titel nahelegte: "Kamerad Köhler: Bitte wegtreten!" Bundespräsident Köhler war schon oft der Vorwurf gemacht worden, nicht loyal genug mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten; zuletzt hieß es in der Frankfurter Allgemeinen nach seinem Afghanistan-Besuch, er habe "dies und das" über den Krieg am Hindukusch "dahergefloskelt" und es an ernsthaftem Verständnis für die Truppe fehlen lassen.[12] In Vorwürfen wie diesem liegen die wirklichen Ursachen für seinen Rücktritt. Nur so lässt sich verstehen, dass das Berliner Establishment über strategische Kriege und neue Kolonien debattiert und gleichzeitig, um den Bundespräsidenten aus dem Amt zu drängen, Empörung über Äußerungen zu einer Kriegspolitik heuchelt, die seit Jahren konsensuale Realität und von der außenpolischen Debatte schon längst überholt worden ist.
 
[1] Querkopf im Schloss Bellevue; www.sueddeutsche.de 31.05.2006
[2] Verteidigungspolitische Richtlinien, bekanntgegeben vom Bundesministerium der Verteidigung in Bonn am 26. November 1992
[3] Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr
[4] Armee soll Ölversorgung sichern; www.focus.de 21.05.2006
[5] Ulrich Weisser: Fregatten statt Panzer; Süddeutsche Zeitung 17.11.2009. S. dazu Das Schlüsselmeer
[6] s. dazu Europas Motor
[7] s. dazu Deutschland in Fesseln
[8] s. dazu Eine neue Ära des Imperialismus
[9] Die neuen Kolonien; Welt Online 27.01.2010
[10] Lutz Herden: Protektorat Haiti; freitag.de 19.01.2010. S. dazu Neue Kolonien
[11] Erich Vad: Freund oder Feind. Zur Aktualität Carl Schmitts; Sezession 1, April 2003. S. auch Der Militärberater der Kanzlerin
[12] Kamerad Köhler: Bitte wegtreten! Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.05.2010


Interessen diskutieren!
04.06.2010
BERLIN
(german-foreign-policy) - Deutsche Nachwuchs-Außenpolitiker fordern eine breite öffentliche Debatte über deutsche Interessen und außenpolitische Strategien. In der Bundesrepublik dominiere eine "'politisch korrekte' Doktrin", die auf Prinzipien wie etwa der Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses beruhe, heißt es in einem kürzlich von jungen Mitgliedern eines erfolgreichen Eliten-Netzwerkes publizierten Papier. "Kritische Positionen" würden in der Öffentlichkeit "kaum vertreten", da "die Bürger (...) allzu leicht Populisten verfallen" könnten, "gäbe man abweichenden Stimmen Raum, Pressespalten und Sendezeit". Zustimmung in der Bevölkerung, wie sie für eine ausgreifende Außenpolitik nötig sei, lasse sich jedoch nur durch kontroverse öffentliche Debatten gewinnen. Die Autoren, die sich schon heute als "Führungskräfte" einstufen, plädieren dafür, kühle Kosten-Nutzen-Kalkulationen vorzunehmen; in diesen werde etwa die Rufschädigung, die eintrete, wenn man ein Land nach misslungener Militärintervention zerstört zurücklasse, als abzuwägender Schaden verbucht. Eine solche Kalkulation könne "in einer abschließenden Gesamtabwägung mit qualitativen Argumenten ergänzt" werden, heißt es über die Bedeutung moralischer Einwände.
 
Deutsche Führungskräfte
Unter dem Titel "Deutsche Interessen offen diskutieren!" ist kürzlich in der Zeitschrift WeltTrends ein Thesenpapier "für eine neue außenpolitische Kultur" veröffentlicht worden. Autoren sind sieben Nachwuchsmitglieder des "Tönissteiner Kreises", eines elitären Netzwerkes von über 700 Personen - "Führungskräfte aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik mit Auslandserfahrung", heißt es bei der Organisation. Das erklärte Ziel des Netzwerks, in das man nur auf Vorschlag eines Mitgliedes oder eines Förderers aufgenommen werden kann, ist es vor allem, "deutsche Führungskräfte stärker in die internationale Zusammenarbeit einzubinden".[1] Rund ein Fünftel der Mitglieder arbeiten heute für staatliche deutsche Behörden in Bund und Ländern oder für die EU und andere internationale Organisationen. Gut ein Drittel ist in Einflusspositionen in Wirtschaft und Medien aktiv. Seit 2007 sind jüngere Mitglieder des Tönissteiner Kreises in "Young Tönisstein" organisiert. Diesem Zirkel entstammen die Autoren des genannten Papiers. Personen wie sie werden, urteilt der Herausgeber der Zeitschrift WeltTrends, "in 10 oder 15 Jahren die Außenpolitik dieses Landes beeinflussen, vielleicht sogar bestimmen".[2]
 
Nicht reif
Das Thesenpapier von "Young Tönisstein" widmet sich nach einigen eher allgemein gehaltenen Aussagen über die Zukunft der deutschen Industrie oder über die Bedeutung von Forschung und Bildung besonders der Außenpolitik. Wie die Autoren schreiben, pflegen die "außenpolitischen Akteure" der Bundesrepublik - genannt werden Außenpolitiker, die Ministerialbürokratien sowie die Bundeswehr, Politikberater und Thinktanks - "einen breiten Konsensus über die Grundpfeiler der Außenpolitik".[3] Dazu gehörten "die Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses", "Bereitschaft zu humanitären und friedenssichernden Einsätzen der Bundeswehr", außerdem die "Unterstützung eines freien Welthandels und freier Kapitalmärkte" sowie weitere Basiselemente. Dies alles zusammen bilde "die 'politisch korrekte' Doktrin"; "kritische Positionen werden kaum vertreten". Der Verzicht auf eine öffentliche außenpolitische Diskussion wird nach Aussage der Eliten-Netzwerker damit begründet, "dass die Bürger nicht reif für eine solche Debatte seien" - schließlich könnten sie "allzu leicht Populisten verfallen (...), gäbe man abweichenden Stimmen Raum, Pressespalten und Sendezeit".
 
Mehr Bismarck, weniger Habermas
Nach dem Urteil der Autoren krankt eine solche Position jedoch daran, dass sie nicht genügend Zustimmung in der Bevölkerung für eine weit ausgreifende Außenpolitik mobilisieren kann. Als Beispiel hätte den Autoren der Krieg in Afghanistan dienen können, der bereits seit langem von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Zustimmung unter den Menschen lasse sich nur durch öffentliche Diskussion gewinnen, schreiben die Autoren und vertreten die Position, dass Deutschland deutlich mehr "öffentliche und kontroverse Debatten über seine außenpolitischen Werte, Ziele und Interessen" sowie "über Strategien zu ihrer Durchsetzung braucht".[4] Auf der Basis einer soliden inneren Zustimmung wäre es darüber hinaus möglich, deutsche Interessen auch gegen verbündete Staaten weit offensiver zu vertreten, heißt es in dem Papier. Dabei beziehen sich die Autoren auf einen Text mit dem programmatischen Titel "Mehr Bismarck, weniger Habermas".

Mit qualitativen Argumenten ergänzt
Für die "offene Diskussion" deutscher Interessen schlagen die Autoren eine "Entscheidungsmatrix" vor, die den Charakter der anvisierten Debatte deutlich erkennen lässt. Demnach soll diese "Matrix" "Nutzen und Kosten einer Maßnahme" nüchtern gegenüberstellen. "Grundlage für die Bewertung des Nutzens" sei "der (potenzielle) Beitrag zur Verwirklichung eines deutschen Interesses". Ebenso müsse der mögliche Schaden bestimmt werden. Als Beispiel für einen "Schaden" wird aufgeführt, dass es "Rückwirkungen auf den Ruf Deutschlands" haben könne, wenn nach einer Intervention der "Zielstaat (...) in einer erheblich schlechteren Verfassung" zurückbleibe als zuvor. Auch eine Gefährdung der Völkerrechtsordnung gilt als abzuwägender Schaden. Dabei betonen die Autoren, dass eine kühl kalkulierende Kosten-Nutzen-Rechnung moralische Erwägungen nicht gänzlich zu ignorieren brauche: Die "Entscheidungsmatrix" könne "in einer abschließenden Gesamtabwägung mit qualitativen Argumenten ergänzt" werden.[5]
 
Wie die Kolonialmächte
Den weltpolitischen Hintergrund, der die nachwachsenden außenpolitischen Eliten prägt und Forderungen nach einer offensiveren Vertretung deutscher Interessen bei kühler Kosten-Nutzen-Kalkulation begünstigt, hat letztes Jahr ein Mittelost-Experte beschrieben, der zur Amtszeit von Gerhard Schröder einige Jahre im Bundeskanzleramt arbeitete und selbst den heranwachsenden außenpolitischen Eliten angehört. Durch die Erfahrungen, die die Deutschen etwa in Afghanistan sammelten, "werden wir gezwungen, uns intensiv mit diesen Ländern zu befassen", berichtet der Experte: "Mehr junge Leute befassen sich mit Weltregionen, die bisher wenig Interesse gefunden haben." Entsprechend würden beispielsweise neue Studiengänge für Internationale Beziehungen eingerichtet, die Debatte darüber wachse. "Wir erleben eine Entwicklung, wie sie im Grunde von den Kolonialmächten im 19. Jahrhundert durchgemacht wurde", urteilt der ehemalige Mitarbeiter im Bundeskanzleramt.[6] Dabei "entstehen neue politische und militärische Eliten, die in Zukunft die deutsche Politik mitprägen" werden. Entscheidend sei dabei "eine Entwicklung hin zu interessengeleitetem Handeln in der Außenpolitik" - eine Einschätzung, die das Positionspapier von "Young Tönisstein" über kühle Kosten-Nutzen-Kalkulationen zugunsten der deutschen Expansion exemplarisch bestätigt.
[1] Über uns; www.toenissteiner-kreis.de
[2], [3], [4], [5] Streitplatz; WeltTrends Nr. 71, März/April 2010. S. auch Die Berliner Kriegsdebatte
[6] "Der Iran ist heißer Kandidat für eine geopolitische Umorientierung"; www.eurasischesmagazin.de 02.06.2009


 
Ankündigungen (siehe: Aufrufe und Einladungen)  
  Zur Zeit sind Soldaten der Bundeswehr in folgenden Ländern im Einsatz:

Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Afghanistan, Usbekistan ,Sudan
Horn von Afrika (Djibouti) und vor den Küsten Libanons und Somalias

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Zahlreiche Werbetermine der Bundeswehr findet ihr unter:

www.kehrt-marsch.de

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