Nabucco
Hintergrund der aktuellen Pipeline-Debatte ist das Bemühen, den deutsch-europäischen Zugriff auf Erdöl und Erdgas zweier wesentlicher Rohstoffgebiete zu stärken: auf die Vorräte des Kaspischen Beckens und die Vorräte des Mittleren Ostens. In beiden Regionen zusammen wurden im Jahr 2008 gut zwei Drittel der weltweiten Öl- und beinahe die Hälfte der globalen Gasreserven lokalisiert. Für Berlin und Brüssel stellt sich dabei die Frage, auf welchen Transportwegen sich die Rohstoffe nach Europa verbringen lassen. Während Öl und Gas (in Form von Flüssiggas) aus dem Mittleren Osten überwiegend per Schiff abtransportiert werden können, ist dies für die kaspischen Ressourcen nicht möglich. Ein großer Teil von ihnen wird bislang über russisches Territorium geleitet; ein kleinerer Teil - Öl und Gas aus Aserbaidschan - kann mittlerweile per Pipeline durch den Südkaukasus an Russland vorbei nach Westen geliefert werden. Bei russlandkritischen Kräften gilt es als äußerst erstrebenswert, weitaus größere Mengen der kaspischen Rohstoffe durch den Südkaukasus zu transportieren, um den russischen Einfluss auf die EU-Energieversorgung zu schmälern. Zu diesem Zweck wird vor allem die Nabucco-Pipeline durch den Südkaukasus und die Türkei geplant. Diese könnte über das kaspische Erdgas hinaus auch die Erdgasvorräte des Nordirak nach Europa leiten.
Erneut verzögert
Wie der deutsche RWE-Konzern, der an Nabucco beteiligt ist [1], berichtet, verzögert sich die Realisierung des Vorhabens nun zum wiederholten Male. Hintergrund ist, dass Turkmenistan sich weigert, einen Liefervertrag zu unterzeichnen. Die außergewöhnlich umfangreichen Erdgasvorräte Turkmenistans sollen den Plänen des Westens zufolge zu einem beträchtlichen Teil in die Nabucco-Pipeline eingespeist werden, um der EU möglichst viel Gas zu sichern, aber auch, um das Pipeline-Projekt gewinnbringend zu gestalten.Wie der zuständige RWE-Manager jetzt erklärt, sei mit einem Vertragsabschluss mit Turkmenistan kaum vor Jahresende zu rechnen - die turkmenische Regierung fordert verlässliche Abnahmegarantien, unter anderem eine entsprechende Erklärung der deutschen Bundesregierung.[2] Ursache sind komplexe politische Auseinandersetzungen, die ein Scheitern des Nabucco-Projekts als möglich erscheinen lassen und in Berlin für Unmut sorgen.
South Stream
Teil der Machtkämpfe ist das Bemühen Russlands, den Bau der Nabucco-Pipeline zu unterlaufen. Moskau plant eine Pipeline mit ähnlichem Streckenverlauf, die ebenfalls geeignet wäre, kaspisches Erdgas nach Europa zu führen. Das Vorhaben ("South Stream") ist ein südliches Gegenstück zu der heftig umstrittenen Ostsee-Pipeline ("Nord Stream"), die derzeit von deutschen und von russischen Konzernen gebaut wird, um sibirisches Erdgas unter Umgehung von Zwischenlieferanten in die Bundesrepublik zu transportieren.[3] Die Planungen für "South Stream" schreiten voran. Zuletzt sicherte der österreichische Konzern OMV zu, sich an dem Projekt zu beteiligen. Eine vertragliche Zustimmung der Türkei wird für November erwartet.
Energiedrehscheibe
Die Türkei spielt in den Pipeline-Kämpfen eine immer wichtigere Rolle. In Berlin galt Ankara bisher als eindeutig nach Westen orientierter Bündnispartner, dessen Zuverlässigkeit als Transitland für Energielieferungen kaum in Frage stand. Weil die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei jedoch offenkundig nur als Scheinverhandlungen führt - auch auf Druck Berlins -, ist Ankara schon seit einigen Jahren dabei, seine einseitig nach Westen ausgerichtete Außenpolitik zu revidieren und seinen Einfluss im gesamten Nahen und Mittleren Osten auszubauen. Dazu gehört der Versuch, die Türkei zur "Energiedrehscheibe" auszubauen. Der Versuch basiert darauf, dass das Territorium der Türkei ein unmittelbares geographisches Bindeglied zwischen den kaspischen und mittelöstlichen Ressourcengebieten einerseits und Europa andererseits bildet. Dabei kooperiert Ankara nicht nur mit der EU, sondern auch mit Moskau, um von den russischen Bemühungen zu profitieren, mit South Stream eine Parallelpipeline zu Nabucco zu bauen.
Widersprüche
Die Pipeline-Konkurrenz bringt Berlin in Schwierigkeiten. Nabucco und South Stream, die zwei annähernd parallel verlaufenden Röhren, "schließen einander aus", urteilen Regierungsberater und fordern eine rasche Entscheidung, welche von beiden realisiert werden soll.[4] Im Dezember 2009 führten die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) gemeinsam ein "Expertentreffen" durch, bei dem die Energiebeziehungen zwischen der EU, Russland und der Türkei auf der Tagesordnung standen. Es sei unumgänglich, in der Energiepolitik eine "Dreiecksbeziehung" zwischen Brüssel, Moskau und Ankara zu entwickeln, hieß es nach der Zusammenkunft [5] - ein Versuch, offenkundige Widersprüche in der EU-Außenpolitik zu kitten: Nabucco richtet sich gegen Moskau, die von der Bundesrepublik forcierte Verweigerung einer EU-Beitrittsperspektive für die Türkei ist ein Affront gegenüber Ankara; dass Moskau und Ankara den deutsch-europäischen Offensiven eine eigene Interessenpolitik entgegensetzen, kann deshalb nicht überraschen.
Verlustängste
Dabei drängt deutschen Experten zufolge die Zeit. China, erinnert ein Mitarbeiter der DGAP, baut seine Energiebeziehungen insbesondere zu Turkmenistan, Kasachstan und Russland aus. Dadurch werde Europa möglicherweise den Zugriff auf erhebliche Teile der kaspischen Rohstoffe verlieren, heißt es warnend.[6]
Verzicht
Weitergehende Überlegungen stellt nun die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) an. Wie es bei der SWP heißt, könne "die russische Option" - South Stream - möglicherweise "die vorteilhaftesten Voraussetzungen bieten". Nabucco käme bei einer Realisierung dieser Option nicht zustande. "Der politische Preis für eine solche Entscheidung", urteilt die SWP, "bestünde wohl in einer deutlichen Eintrübung des Verhältnisses zu den USA."[7] Wolle die EU dagegen Nabucco verwirklichen, dann komme man um deutlich entschlossenere Aktivitäten nicht umhin. Die an South Stream Beteiligten müssten zuverlässig erklären, "dass sie die russische Alternative verwerfen". Für die Türkei ist die deutsche Forderung gleichbedeutend mit dem Verzicht auf zentrale Projekte einer eigenständigen Außenpolitik.
[1] s. dazu
Nabucco und
Südlicher Korridor
[2] Nabucco verzögert sich nochmals; Handelsblatt 04.05.2010
[3] s. dazu
Erdgasgürtel und
Eine Frage der Orientierung
[4] Heinz Kramer: Die Türkei als Energiedrehscheibe. Wunschtraum und Wirklichkeit, SWP-Studie S 9, April 2010
[5], [6] Prospects of a Triangular Relationship? Energy Relations between the EU, Russia and Turkey; www.fes.de April 2010
[6] Heinz Kramer: Die Türkei als Energiedrehscheibe. Wunschtraum und Wirklichkeit, SWP-Studie S 9, April 2010
Kritik an Eine Dreiecksbeziehung (Pipeline-Pläne) von gfp:
Sehr geehrte Damen und Herren,
gestatten Sie mir ein paar kritische Anmerkungen zum Artikel "Eine Dreiecksbeziehung".
Es gibt mehrere die politische und die energetische Lage verfälschende Rechercheschwächen:
1. Wie der Ihnen von mir zugestellte Artikel aus dem Wirtschaftsblatt vom 14.Mai 2010 (Nochmal im Anahng) angibt, ist die zweite Quelllinie der NABUCCO, der aus Iran kommende Zweig, ebenfalls aus politischen Gründen als nicht machbar erklärt worden. Das aber ist die politisch wichtigere, von Ihnen nicht gebrachte Meldung, die auch nicht in Ihre politische Einschätzung passen will. Kann man diesen Fakt, ohne die USA zu erwähnen, kommentieren?
2. Die "Einflusskämpfe zwischen Russland, der Türkei und der EU" und ihre Rolle für die politsche Zurückhaltung Turkmenistans sind nicht gut belegt. Ich hänge Ihnen einen hoch interessanten Artikle aus dem Jahr 2008 an, der m.E. niht in allem richtig liegt, aber nicht unbeachtet bleiben sollte.
3. Im Lauf der letzten 3 Jahre haben die Chinesen die Afghanistan-Pakistan-Sperrre überbrückt und eine Gaspipeline von Turkmenistan über Kasachstan gebaut und kürzlich mit Sekt begossen. Das fehlt auch, damit ändert sich die Sichtweise auf die eurasichen Zusammenschlüsse gegen den Hegemon.
4. Sie übernehmen kritiklos die übliche Ideologie, dass NABUCCO gebaut werden soll, "um die Abhängigkeit der europäischen Energieversorgung von Russland zu verringern." Das ist absolut eine Nebenseite. Da in diesem Jahr der weltweite Peak gas stattfindet, geht es auch beim Gas um die Versorgung mit der letzten Hälfte und nicht bloß um Machtspielchen. Die Nachfragen sind steigend und können nicht mehr voll befriedigt werden. Die Unterversorgung wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Europa wird betteln müssen, acuh über die South-Stream-Pipeline versorgt zu werden.
Die Denkweise der 70er und 80er Jahre versagt hier.
5. Meine politische Einschätzung der Verhältnisse in der zentralsaistischen Großregion geht wesentlich auf Zbginiew Bzcezinski (Die einzige Weltmacht) zurück, die besagt, dass der eigentliche Störenfried in den Vereinigten Staaten zu sehen ist. Diese haben ein offen ausgesprochenes Interesse an einer Unterdrückung und Verunselbständigung des Iran - sie wollen an die Öl- und Gasvorkommen selbst ran, sie verbrauchen und sie kontrollieren.
Sie verbinden damit Herrschaftspläne über den ganzen Kontinent.
Eine Interpreatation, die nicht sieht, dass alle Länder, aber ganz besonders die USA am Öltropf hängen und der Kampf um das Öl selbst geht und nicht nur um Kontrolle von Ökonomien durch Öl und Gas, geht an der Wirklichkeit vorbei.
Eine Interpretation der Vorgänge in Zentralasien, die die Rolle der USA vernachlässigt, muss zu falschen Folgerungen kommen.
Mit freundlichem Gruß
Peter Klemm