Von Cathrin Kahlweit
Vor 40 Jahren richtete das Massaker von My Lai den Blick auf US-Kriegsverbrechen - so wie Abu Ghraib im Irak 2004.
|
Ein Bild das um die Welt ging: ein irakischer Häftling, der im US-Gefängnis Abu Ghraib misshandelt wurde. (Foto: AP)
Ganze 118 Stunden habe der amerikanische Kongress über den angeblichen Missbrauch von Steuergeldern bei der Versendung der Weihnachtspost von Bill Clinton diskutiert - aber nur zwei Stunden über Abu Ghraib. Seymour Hersh hat das Missverhältnis ausgerechnet und beklagt es mit ungebrochener Fassungslosigkeit.
Der berühmte Reporter, der die Folter irakischer Gefangener durch US-Soldaten in dem Gefängnis 2004 öffentlich gemacht hat, rätselt über dieses kollektive Schweigen bis heute. Und sieht in den Lügen und Beschönigungen der US-Regierung, dem Desinteresse des Kongresses und der zögernden Anteilnahme der Öffentlichkeit doch ein Warnsignal: "Ich weiß nicht, warum es in Amerika gegenwärtig so wenig Widerspruch gegen Morallosigkeit und Rechtsverletzungen gibt. Was ich aber weiß ist, dass dieser Mangel unsere Demokratie schwächt", sagte Hersh im vergangenen Herbst in Berlin.
Es war just dieser Seymour Hersh, der 1969 im New Yorker einer schockierten amerikanischen Öffentlichkeit und einer abwehrenden Regierung das Massaker von My Lai vorhielt, das GIs am 16. April 1968 in einem kleinen vietnamesischen Dorf angerichtet hatten und das sich an diesem Mittwoch zum 40. Mal jährt.
Etwa 500 Menschen waren damals unterschiedslos und sinnlos ermordet worden, die Einsatzführer hatten jedoch ihre Berichte gefälscht, kritische Nachfragen wurden von Vorgesetzten nicht gestellt, zwischen den Soldaten kursierende Gerüchte wurden unter dem Deckel gehalten.
Erst ein knappes Jahr später brach ein Soldat das Schweigen, eine wenig effektive Untersuchung wurde anberaumt - bis Hersh sich der Sache annahm. Parallel zu den Zeugenaussagen, die er sammelte, wurden Fotos publiziert; ein Soldat hatte während des Massakers pausenlos fotografiert. Bericht und Bilder lösten eine Schockwelle in der Bevölkerung aus, die den Anfang vom Ende des Vietnam-Krieges markierten. Erst später wurde erkennbar, dass es Massaker wie jenes von My Lai in Vietnam wohl zu Dutzenden gegeben hat, dass Tausende und Abertausende so umgekommen sind.
Bild des Grauens: niedergemetzelte Einwohner des vietnamesischen Dorfes My Lai. (Foto: AP)
My Lai und Abu Ghraib gelten heute als zwei Symbole für zwei Kriege, die nicht zu gewinnen waren - oder sind. Die Aufnahmen vom clownesk vermummten sogenannten Kapuzenmann in Abu Ghraib einerseits und von dem Leichenberg aus Frauen, Männern, Kindern, Babys, die zwischen Reisfeldern liegen wie vom Abdeckwagen gefallenes totes Vieh andererseits - diese beiden Fotos symbolisieren ikonographisch die Fragen nach dem Warum und dem Wie, die sich nun, kurz vor dem Ende der Ära Bush, auch Publizistik und Bevölkerung in den USA wieder lauter zu stellen beginnen.
My Lai ist heute, rund um den Jahrestag, in den USA kein Thema - der Irakkrieg mit derzeit etwa 4000 toten US-Soldaten und etwa 90.000 umgekommenen Zivilisten beschäftigt das Land zur Genüge.
Quälende Fragen
Bernd Greiner, der am Hamburger Institut für Sozialforschung über "Theorie und Geschichte der Gewalt" forscht, hat im Herbst 2007 ein vielbeachtetes Buch vorgelegt, in dem er die Verbindungslinie von My Lai zu Abu Ghraib zieht.
Damals, schreibt er in "Krieg ohne Fronten", habe die Veröffentlichung dieses von Angst und Enthemmung gleichermaßen getriebenen Kriegseinsatzes dazu geführt, dass sich eine ganze Gesellschaft, notgedrungen, dieselben Fragen stellte. "Wie viel Ungerechtigkeit verzerrt die Züge der Demokratie, die Amerika der Welt zum Vorbild anbietet?", rätselte Time 1969, und der New Yorker stellte fest: "Wenn wir uns daran gewöhnen, dergleichen hinzunehmen, gibt es nichts mehr, was wir nicht hinnehmen."
Viele Politiker forderten rückhaltlose Aufklärung, statt eines Militärtribunals übernahm eine unabhängige Kommission die Recherchen. Und Hunderttausende gingen auf die Straße. Greiner folgert: "Zu berichten ist von einer Gesellschaft, die mit Lügen in Zeiten des Krieges noch nicht ihren Frieden gemacht hat", und meint die USA vor 40 Jahren, die so anders seien als die USA heute.
Hat die Bush-Regierung, so der Umkehrschluss, ureigene amerikanische Werte im Namen einer ganzen Nation aufgekündigt? Und war, wie Seymour Hersh zynisch anmerkt, Abu Ghraib nur deshalb ein "Ausrutscher, weil so viele Fotos gemacht wurden", dass der Skandal öffentlich wurde? So weit geht der investigative Reporter aber letztlich selbst nicht.
Auch er würde wohl kaum negieren, dass Vietnam- und Irakkrieg nur begrenzt vergleichbar sind, dass die Exitstrategie heute weit schwerer zu finden ist als dereinst. Und dass die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesellschaft wie die Fähigkeit zur Selbstkritik der vierten Gewalt, der auch Hersh selbst angehört, ungebrochen sind. Deshalb stellt er fest: "Wir führen Krieg kein bisschen besser als die anderen." Krieg sei "keine schöne Angelegenheit".
(SZ vom 16.4.2008/beu)
Dieses Foto ging um die Welt: Lynndie England im Gefängnis von Abu Ghraib, in ihrer Linken hält sie eine Leine, an deren Ende ein gequälter irakischer Gefangener festgebunden ist. (Foto: AFP)