www.tagesschau.de - 18.03.2010
Testshow mit Stromschlägen für Kandidaten
Denn sie kennen keine Gnade
Für jede falsche Antwort bestrafen die Fragesteller den Kandidaten mit einem Stromstoß - dieses Experiment aus den 60er-Jahren fand jetzt seine Wiederaufführung in einer TV-Show in Frankreich. Die Frage: Zu welchen Grausamkeiten lassen sich Menschen unter dem Autoritätsdruck des Fernsehens treiben?
Von Christoph Wöß, BR-Hörfunkstudio Paris
Stromstöße von bis zu 460 Volt konnten die Testpersonen dem Kandidaten geben.
Alles wirkt täuschend echt. Die Kameras laufen. Das Studiopublikum freut sich auf die Moderatorin des Abends: Tania Young, die den Franzosen aus vielen Fernsehshows bekannt ist. "Zône extrème" heißt die Sendung, "Gefahrenzone". Und der Titel hält, was er verspricht. Kandidat Jean-Paul kann eine Million Euro gewinnen, wenn er 27 Fragen richtig beantwortet - aber für jeden Fehler bekommt er einen Stromstoß versetzt.
"Bestrafung durch Stromschlag, Bestrafung durch Stromschlag!", skandiert das Publikum. Jean-Paul wird in eine Plexiglaskabine gesperrt und bekommt Elektroden um die Handgelenke geschnallt. Was das Publikum nicht weiß: Durch die Kabel wird kein Strom fließen. Jean-Paul ist Schauspieler. Er simuliert die Schmerzen nur, und auch die Moderatorin ist eingeweiht. "Zône extrème" ist das größte psychologische Experiment in der Geschichte des französischen Fernsehens. Im Zentrum stehen jene Kandidaten, die Jean-Paul die Fragen stellen. Sie glauben, an der Pilotsendung einer Quizshow teilzunehmen.
Kandidat fleht um Spielabbruch
Der erste Fehler wird mit 20 Volt bestraft, beim zweiten sind es 40, und so geht es weiter. Als Höchststrafe können die Fragesteller 460 Volt auslösen. "Wer geht so weit?" - das ist die spannende Frage bei diesem Experiment, dem man mit wachsender Beklemmung folgt. Bei 100 Volt lässt Jean-Paul zum ersten Mal ein "Aua" hören, aber das beeindruckt die Fragesteller nicht. Bei 300 Volt schreit Jean-Paul, fleht darum, das Spiel abzubrechen. "Es reicht jetzt", ruft er. "Haben Sie mich verstanden? Ich spiele nicht mehr mit. Es ist wirklich unerträglich. Verstehen Sie, was ich sage?"
Die Fragestellerin zögert kurz, fragt die Moderatorin, ob sie abbrechen darf. Doch die entgegnet: "Lassen Sie sich nicht von ihm beeindrucken, machen Sie weiter." Die Autorität der bekannten Moderatorin lässt jeden Zweifel verfliegen: Der Hebel wird umgelegt.
Die Versuchspersonen wussten nicht, dass der Schauspieler Jean-Paul die Schmerzen nur simulierte.
80 Prozent gehen bis zur Höchstgrenze
Mit 80 verschiedenen Fragestellern ist die vermeintliche Show durchgespielt worden. 64 von ihnen - also vier von fünf Probanden - haben die höchste Voltzahl ausgelöst, im vollen Bewusstsein, dass das tödlich sein kann. Die Psychologin Dominique Oberle hat das Experiment begleitet. Sie meint, dass es für die Fragesteller nicht leicht war, die Stromstöße auszulösen. "Sie leiden enorm. Als Jean-Paul geschrieen hat, haben viele versucht, diese Schreie durch lautes Reden zu übertönen", berichtet die Psychologin. "Sie steckten in einem fürchterlichen Dilemma. Und indem sie gehorsam waren, sind sie aus diesem Dilemma hinausgekommen."
"Das Fernsehen kann jeden zu allem verleiten." - Christophe Nick.
Gehorsam gegenüber Autoritäten - das ist das zentrale Thema des Versuchs, für den der Dokumentarfilmer Christophe Nick auf das berühmte Experiment des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram zurückgegriffen hat. Der hat schon Anfang der 1960er-Jahre untersucht, wie weit Menschen gehen, wenn sie einer Autorität folgen.
Fernsehen als Autorität
Nick hat das Experiment mit der Autorität unserer Tage, dem Fernsehen, wiederholt. "Es gibt immer eine Autorität, die die Menschen dazu bringt, zu gehorchen", sagt er. "Das kann die Wissenschaft sein, die Religion, die Lehrer in der Schule. Dass das Fernsehen auch so eine Autorität ist, das haben die Probanden vorher nicht so klar gesehen."
Die Zahlen sprechen für sich. In Stanley Milgrams Versuch vor 50 Jahren, als Wissenschaftler die Autorität verkörperten, waren rund 60 Prozent der Testpersonen gehorsam. Bei Christophe Nick, wo das Fernsehen die Autorität darstellt, sind es 80 Prozent. "Das Fernsehen", so seine Schlussfolgerung, "hat eine erschreckende Macht. Es kann fast jeden dazu bringen, alles zu tun."