Dunkle Vergangenheit, lichte Gegenwart
Vergangenheitspolitik der bundesdeutschen Polizei von Wolf-Dieter Narr
Die Sicherheitsorgane waren essentieller Teil der NS-Herrschaft und ihrer Vernichtungsmaschinerie. Sechzig Jahre nach Gründung der BRD wird dieses Wissen auch innerhalb der Polizei (fast) allgemein geteilt. Es bleibt allerdings folgenlos.
Als im Herbst 2001 Dieter Schenks Buch über die "braunen Wurzeln" des Bundeskriminalamts (BKA) erschien, wollte die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke von der Bundesregierung wissen, ob sie die in diesem Band erhobene Kritik teile, "dass das BKA zu Fragen nach der nationalsozialistischen Vergangenheit ... leitender Mitarbeiter noch nie Stellung bezogen hat und sich damit bis heute nicht von diesen distanziert und für diese entschuldigt hat, zumal diese nie ein Wort des Bedauerns oder der Reue gezeigt haben?" Eigentlich handelte es sich dabei um eine harmlose Frage, die die aktuelle Institution BKA und ihre Funktionen nicht in Frage stellte. Die betreffenden Personen waren ohnehin längst pensioniert und zumeist verstorben.
Die Bundesregierung jedoch antwortete unter anderem: "Das BKA hat keine nationalsozialistische Vergangenheit. Es ist erst im Jahr 1951 gegründet worden."[1] Solche regierungsamtliche Chuzpe, zumal eine Unverschämtheit gegenüber Mitgliedern des Parlaments und ihrer Funktion, befand sich im Einklang mit jener Linie, die über Jahrzehnte hinweg den Umgang der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus bestimmt hatte - erkennbar beispielsweise an Festschriften zu runden und halbrunden Geburtstagen dieser Institutionen.[2]
Seit der Jahrhundertwende sind derartige Erklärungen seltener geworden. Selbst das BKA veranstaltete im Jahre 2007 eine Reihe von Kolloquien unter dem Titel: "Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte". Bereits im Vorwort zur entsprechenden Dokumentation formulierte sein Präsident Jörg Ziercke das eigentlich Selbstverständliche und Bekannte: "Die Polizei war während des Nationalsozialismus eine entscheidende Stütze des Regimes. Sie hat als solche schwere Schuld auf sich geladen."[3]
Ähnlich spät wie andere Institutionen und deren gegenwärtige Vertreter räumen deutsche Polizeien nunmehr ein, dass die Sicherheitsapparate - die Polizeien und Geheimdienste in ihrer seinerzeitigen und heutigen Variantenfülle - essentieller Teil der Herrschafts- und Vernichtungsmaschinerie gewesen sind. Das "wusste" man ohne Frage bereits vorher - oder hätte es doch wissen müssen. Selbst wenn man über keine eigenen Erfahrungen mehr verfügt, lässt sich die nationalsozialistische Herrschaft, in ihrer Expansion, gesellschaftlichen Durchdringung und ihrer mörderischen Effizienz anders nicht verstehen. Für dieses Wissen hätte es kein polizeiliches Pendant zur "Wehrmachtsausstellung" gebraucht.[4] Wie für das ansonsten "saubere", nur kriegsmörderisch funktionstüchtige Militär in all seinen Graden und Einsätzen, so gilt mehr noch für die mehrfunktionale Polizei: Sie verfolgte, kontrollierte und mordete mit. Sie tat dies von Anfang bis Ende als tragende Säule des Systems.
Die bundesdeutsche "Non-Decision"
Als eine "Nicht-Entscheidung" bezeichneten US-amerikanische Soziologen vor Jahrzehnten einen Sachverhalt, der so allgemein bekannt und selbstverständlich erscheint, dass er wie eine Prämisse nicht mehr in Frage gestellt wird. Um eine solche wirkungsreiche, aber nicht mehr auf ihre Wirkungen getestete Prämisse handelt es sich bei dem, was Norbert Frei "Vergangenheitspolitik" genannt hat: In der Bundesrepublik allgemein wurden systematisch Personen, Institutionen und Verfahrensmuster kooptiert, die sich zwischen 1933 und 1945 "professionell" bewährt hatten.[5] Das gilt in besonderem Maße im Kontext der inneren Sicherheit - von der Schutzpolizei über die Kriminalpolizei und ihrer Spitzeneinrichtung BKA, deren spätes bundesdeutsches Gründungsdatum ebenso wenig verwirren darf, wie das des Bundesnachrichtendienstes, den die USA der Bundesrepublik 1954 gleichsam als "Morgengabe" zurückgegeben haben, bis zu den Bundes- und Landesämtern für Verfassungsschutz.
Dass die Sicherheitseinrichtungen, mit einem nach-nationalsozialistischen Lieblingswort (in der BRD war und ist in aseptischer Weise nur von der "Nachkriegszeit" die Rede) gesprochen, trotz mancher Entbräunungen und sonstiger Modifikationen wiedererrichtet worden sind, hat eine Reihe von Gründen: Dass man ein Volk aus Funktionären, Tätern und Mitläufern nicht einfach auswechseln könnte; dass ein durch Krieg und Kriegswirtschaft zerstörtes Land eigene "funktionale Imperative" frei machte, beispielsweise ordnungs- und kriminalpolizeilicher Art; dass, und das nicht zuletzt, der Kalte Krieg und seine deutsche "Front" eine Reihe innen- und außengerichteter, teilweise im Grundgesetz verankerter Sicherungsmaßnahmen zu verlangen schien. Der Rückgriff auf bewährte Kompetenzen, deren Inhaber und Verfahrensweisen lag nahe. Auch das ist ein Grund, warum die Denazifizierung in einem Fiasko endete. Sie tat dies in der Produktion einer Fülle unterschiedlich weißer "Persilscheine" und einer weitreichenden Vertuschungs-, Verleugnungs- und Täuschungskameraderie. Die BRD wurde im lange warmen Schaumbad der Lüge, der Ausreden und Rationalisierungen "sozialisiert".
Festzuhalten ist, dass man die Bundesrepublik in der grundrechtsblumigen Fülle ihrer sechzig Jahre nicht verstehen kann, wenn man, gerade im Sicherheitsbereich, die prägekräftige Melange aus vergangenheitsgeprägter Gegenwart nicht wahrnimmt, zu der sie das "Brot der frühen Jahre" (Heinrich Böll) hinunterschlang. Das Problem der "Elitenkontinuität" lässt sich in der Tat nicht reduzieren auf eine "genuin nationalsozialistische Elite und deren Nachkriegschancen". Zurecht fordert Frei, "den Blick auf die deutschen Führungsschichten insgesamt zu richten", auf all jene also, "die mit ihren Fähigkeiten, ihrem Talent und ihrer Expertenschaft dazu beitrugen, dass Hitler und seine 1933 installierte 'Bewegung' binnen weniger Jahre für Deutschland den Status einer politischen, ökonomischen und militärischen Großmacht zurückzuerobern vermochten, um schließlich einen beispiellos verbrecherischen Krieg zu beginnen".[6] Nur so wird einsichtig, warum Taten und Verhalten während des "3. Reichs" danach kein höheres Karriere-Hindernis darstellten.
Nicht nur in der Polizei, sondern auch sonst wurden sie erst zum ernsthafteren Thema, als nichts mehr zu tun, sprich: niemand mehr zu "retten" war. 1999 erinnerten sich die deutschen Historiker an ihre längst verblichenen Väter. Anfang des neuen Jahrhunderts ließ die Max-Planck-Gesellschaft die Leistungen diverser Institute ihrer Vorläuferin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, für das nationalsozialistische Deutschland, insbesondere am Exempel "entgrenzter Medizin", kundig durchleuchten. Und nun treibt ihre Vergangenheit die Polizei um, nun, da nichts mehr umzutreiben ist. Die einst aktiven Nationalsozialisten, Parteimitglieder oder nicht, solche, die sich jedenfalls funktional unbegrenzt der ausrottenden Nazi-Expansion zur Verfügung stellten, leben nicht mehr. Die Institutionen im bundesdeutschen Kontext scheinen unbeschadet mancher, eher randständig wirksamer Kontinuitäten funktional qualitativ anders eingebaut und wirksam. Der Schrecken einstiger Taten und Täter könnte an Schülergefühle erinnern, wenn anlässlich eines Lehr- (oder besser Leer-)gangs spätmittelalterliche Folterkammern besichtigt worden sind.
Massivität des Gewesenen und unabgegoltene Postulate
An neueren Publikationen zur Geschichte der Polizeien ist kein Mangel. Viele dieser Studien machen lokal und regional die ersten Nachkriegsjahre lebendig. Die Geschichte der frühen bundesdeutschen Polizei kann nachvollzogen werden. Andere schildern beispielsweise die Aktivitäten einzelner Polizeibataillone sehr genau.[7] Die meisten Untersuchungen neigen allerdings dazu, die behandelten Polizeien zu sehr für sich gesondert zu behandeln. Ihre Aussagekraft für die nationalsozialistische wie die liberaldemokratische bundesdeutsche Herrschaft wird in Kontinuität und Differenz nicht ausgelotet. Sobald von bundesdeutschen Polizeien die Rede ist, wird wie von lichter Gegenwart in graudunkle "Vorzeit" zurückgeblendet. Es scheint durchgehend so, als böten die Gegenwart und ihre Polizeien kein Problemprofil, in dem ein Fragehaken festzumachen wäre, um nach der Genesis solcher Probleme zu fahnden. Selbst dort, wo in bundesdeutscher Vergangenheit der 50er und 60er Jahre dunkle Stellen und Machenschaften ausfindig gemacht werden, blüht die Gegenwart in bundesdeutschem Spätsommer und trägt demokratisch reife Früchte.
In diesem Sinne ist die Historisierung der NS-Periode perfekt gelungen. Lieb Gegenwart kannst ruhig sein, da ist kein störend Unrat mehr unterm Nazistein. Will man die Polizeien im systemischen Zusammenhang der NS-Herrschaft verstehen lernen und informierte Fragen in angemessen veränderter Form auf die bundesdeutsche Gegenwart übertragen, dann sollte man zuerst Raul Hilbergs bereits 1961 erschienenes Werk über die Vernichtung der europäischen Juden zur Hand nehmen:
"Ein administrativer Prozeß solchen Ausmaßes läßt sich nicht von einer einzelnen Behörde durchführen, selbst dann nicht, wenn es sich um ein so geschultes und effizientes Organ wie die Gestapo oder um das Kommissariat für Judenfragen handelt, denn ein Vorgang, der in jeder Phase des menschlichen Lebens eingreift, wird schließlich die Kräfte der gesamten organisierten Gesellschaft in Anspruch nehmen. Daher finden sich unter den Tätern nebeneinander die hochspezialisierten Techniker der Rüstungsinspektionen, die nur mittelbar beteiligten Beamten des Reichspostministeriums und - bei der alles entscheidenden Aufgabe, die Unterlagen für den Abstammungsnachweis zusammenzustellen - die Mitglieder eines teilnahmslosen, die Augen verschließenden christlichen Klerus. So unterschied sich die Vernichtungsmaschinerie nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt: der Unterschied war lediglich ein funktioneller. Die Vernichtungsmaschinerie war in der Tat nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft." Ein kleiner, aber lebensentscheidender Zusatz: "Die deutsche Bürokratie ließ sich durch Probleme nicht abschrecken; nie nahm sie zu Vorwänden Zuflucht, wie die Italiener, zu Scheinmaßnahmen, wie die Ungarn, oder zu Hinrichtungen, wie die Bulgaren. Die deutschen Verwalter drängte es nach Perfektion. Anders als ihre Kollaborateure begnügten sie sich niemals mit dem Minimum. Sie taten stets das Maximum".[8]
Führt man sich diese bürokratische Systematik, die eine Fülle scheinbar heterogener Institutionen polizeilicher Art vernetzte, neu und neu vor Augen, dann ist die Frage von Kontinuität und/oder Diskontinuität bis heute nicht so oberflächlich gegenwartsbetulich in einer Art wissenschaftlich-kriminalpolizeilichem "Wellness-Jargon" zu unterlaufen, wie dies in der eingangs zitierten Kolloquiumsreihe des BKA 2007 geschehen ist und wie es dessen Präsident höchst selbst vorführte:
"Der Vorwurf, in der Polizei und auch im Bundeskriminalamt seien in der Gründungsphase (der BRD, WDN), aber auch in späteren Jahren systematisch rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen und Denkmuster weitergeführt worden, ist nicht haltbar. Das Bundeskriminalamt hat sich vielmehr trotz der beschriebenen Kontinuitäten vor allem in den Gründungsjahren zu einer modernen, demokratisch gefestigten, professionellen und international ausgerichteten Polizeibehörde entwickelt."[9]
Wenn die bundesdeutschen polizeilichen Institutionen derart entschuldet werden, schrumpfen die angesichts der Vorträge und Diskussionen der Kolloquiumsreihe mehrfach beobachteten "Sternstunden" zu Gedenkminuten der "Sensibilisierung", einem Lieblingswort Zierckes. Sie können dann als Momente des Gruselns vor der vergangenen Geschichte im Rahmen der Aus- und Fortbildung abgehakt werden, für die Hans-Joachim Heiner im niedersächsischen Innenministerium zuständig ist: "Da in allen Bundesländern bis 2010 die Dipl.-Studiengänge für den gehobenen Polizeivollzugsdienst in einem modularisierten Bachelor-Studiengang verändert werden müssen, begreifen alle Fachhochschulen jetzt die oben zitierte 'Last der Vergangenheit' auch als eine didaktische Chance."[10]
... fruchtbar noch ...
Eine nicht historisierende NS-Analyse kann sich angesichts bundesdeutscher Geschichte und Gegenwart wie aus dem Wissen darum, was Polizei, Geheimdienste und staatliches Gewaltmonopol heute bedeuten, nicht mit bloß "didaktischen Chancen" zufrieden geben. Selbstredend ist die Frage der personellen Kontinuität heute obsolet, sie kann auch über die Karrieren von Personen hinaus nicht im Sinne unmittelbar fortgesetzter Merkmale und Muster gestellt werden. Dennoch muss eine gegen den verharmlosenden Strich gebürstete Geschichtsschreibung und Erinnerung zur Kenntnis nehmen, dass auch die in der BRD wieder errichteten Sicherheitsorgane und ihr Recht von neuen Ausgrenzungen und Feindbildern lebten, die teilweise die alten waren. Das gilt für den Umgang mit Homosexuellen, die bis 1973 auch rechtlich weiter mit dem § 175 des Strafgesetzbuchs traktiert wurden, für die nunmehr nicht mehr "Zigeuner", sondern "Landfahrer" gescholtenen Sinti und Roma, und es gilt erst recht für den Antikommunismus, der zum ideologischen Dreh- und Angelpunkt des Kalten Krieges auch im Innern wurde, der den Erlass eines neuen politischen Strafrechts, den Aufbau politischer Kommissariate bei den Kriminalpolizeien und den von Geheimdiensten rechtfertigte.
Zum notwendigen Wissen gehört auch, dass der Wiederaufbau der Polizei in der BRD als Restauration des preußisch-deutschen Polizeimodells erfolgte. Und dass die ohnehin nur zaghaft verfolgten und vielfach torpedierten Dezentralisierungs- und Entmilitarisierungskonzepte der britischen und US-amerikanischen Alliierten ganz erledigt waren, sobald die Entscheidungen wieder in Händen deutscher Innenminister lagen. Die zuvor kommunalisierten Polizeien wurden wieder verstaatlicht. Sowohl das BKA als auch der Bundesgrenzschutz (BGS) und die Bereitschaftspolizeien der Länder waren Ergebnisse dieses Restaurationsprozesses, bei dem die daran Beteiligten nach dem Motto "Erfahrungen sind kein Schrott" bewusst nicht nur auf Weimarer, sondern auch auf NS-Konzepte zurückgriffen. Eine Entmilitarisierung von BGS und Bereitschaftspolizeien erfolgte erst in den frühen 70er Jahren, als sich die alten Konzepte gegenüber den neuen Formen des Protests als unbrauchbar erwiesen hatten. Die "Modernisierung der Verbrechensbekämpfung" führte nach dem Abgang der braunen "Alt-Kriminalisten" gerade nicht zu einer Dezentralisierung der Kriminalpolizei, sondern zu einem Ausbau der Landeskriminalämter und vor allem des BKA mit neuer Technik, neuen Befugnissen und immer mehr Personal. Die Restauration der deutschen Polizei nach dem Nationalsozialismus und nach dem Kriege war der Sockel, auf dem sich seither in mehreren Schüben technokratische Reformen vollziehen konnten.
Auch heute gilt: Nur schuldhaft ist Wissen darum zu unterdrücken, wie "Normalität" zu einem permanenten Ausnahmezustand werden kann, wie institutionelle und habituelle Entgrenzungen und Enthemmungen Platz greifen. Gerade zu Zeiten, da immer neue, etwa "antiterroristische" Ausnahmezustände legalisiert werden und längst exekutiv- und informationspolizeiliche Kompetenzen und Funktionen allein schon technologisch nicht mehr getrennt werden können, darf man die wahrhaft un-sägliche NS-Erfahrung nicht im Sinne antiquarischer Geschichtsbetrachtung enteignen. Geschichtsschreibung muss den gegenwartsgerichteten Blick schärfen. Dann wäre unter anderen zu erkennen, dass die "präventive Kehre", von der neuerdings in Gesundheits-, Sozialpolitik, in innerer und äußerer Sicherheitspolitik gesprochen werden muss, zu einer neuen "Verpolizeilichung" sozialen Lebens führt (oder führen könnte); dass an die Stelle der für liberale Demokratien kennzeichnenden Ausdifferenzierung und Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben (oder von judikativen und polizeilichen Maßnahmen) mehr und mehr eine neue Entdifferenzierung und Vermischung tritt; dass - damit eng verbunden - die immer schon prekär ausfransenden Rechtsformen vollends ausleiern; dass die "Sicherheitsgesetze" allein ihrer Form nach den Charakter mehr oder minder umfänglicher bürokratisch-polizeilicher Ermächtigungsgesetze gewinnen und die grundrechtliche Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger trotz mancher verfassungsgerichtlicher Hemmungen rapide abnimmt. Betrachtet man solche Veränderungen mitten im Kontext angeblich funktionstüchtiger liberaler Demokratie im Zusammenhang eines juristisch und polizeilich expansiven neualten Feindbegriffs, dann reicht es nicht aus, mit rechtschaffenem wissenschaftlichen und/oder polizeilichem Fuß auf dem festen Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung aufzustampfen. Dann muss - angenehm, weil historisch möglich - in der schlimmen Schule der NS-Herrschaft und ihrer inneren und äußeren Sicherung für die Gegenwart und die Zukunft gelernt werden. Sonst sollte man wenigstens darauf verzichten, die NS-Herrschaft zur didaktischen Stunde zu verniedlichen.
Der "lange Schatten des Nationalsozialismus" in der BRD biete "immer noch das Potential zum Skandal", schrieben Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann und Joachim Perels in der Einleitung ihres gleichnamigen Buches. Allerdings sei sich doch "die überwiegende Mehrheit der politisch Verantwortlichen der unwiderruflichen Lektionen bewusst."[11] Ist sie das? Spiegeln sich die "unwiderruflichen Lektionen" - beispielsweise - in einer europäischen und deutschen Migrations- und Grenzpolitik, die Tausende im Mittelmeer ertrinken lässt?
[1] BT-Drs. 14/7733 v. 5.12.2001, S. 4; Schenk, D.: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001 (Taschenbuchausgabe Frankfurt 2003)
[2] siehe den Beitrag von M. Schauerhammer, N. Pütter und J. Woerlein in diesem Heft
[3] Ziercke, J.: Vorwort, in: BKA (Hg.): Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquiumsreihe, Köln 2008, S. V-VII (V)
[4] vgl. den insgesamt sehr informationsreichen Band: Kenkmann, A.; Spieker, C. (Hg.): Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung - Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2001
[5] s. Frei, N.: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 (2. Taschenbuchauflage München 2003)
[6] Frei, N.: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt/M. 2001
[7] Vgl. als Überblick zur "Nachkriegspolizei": Fürmetz, G.; Reinke, H.; Weinhauer, K. (Hg.): Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg 2001. Als Beispiel von Stadtstudien s. Steinborn, N.; Schanzenbach, K.: Die Hamburger Polizei nach 1945 - ein Neuanfang, der keiner war, Hamburg 1990; Boldt, E.B.: Die verschenkte Reform. Der Neuaufbau der Hamburger Polizei zwischen Weimarer Tradition und den Vorgaben der britischen Besatzungsmacht (1945-1953), Münster, Hamburg, London 2002.; Dams, C.; Dönecke, K.; Köhler, T. (Hg.): "Dienst am Volk"? Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur, Frankfurt/M. 2007; Schloßmacher, N. (Hg.): "Kurzerhand die Farbe gewechselt". Die Bonner Polizei im Nationalsozialismus, Bonn 2006. Zu den Polizeibataillonen s. Klemp, S.: Nicht ermittelt. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz - Ein Handbuch, Essen 2005.
[8] Hilberg, R.: Die Vernichtung der europäischen Juden, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1990, Bd. 3, S. 1062, 1072
[9] Ziercke, J. a.a.O. (Fn. 3), S. VI
[10] Heuer, H.-J.: Entzivilisierung der Polizeiarbeit, in: BKA a.a.O. (Fn. 3), S. 65-94 (66)
[11] Glienke, S.A.; Paulmann, V.; Perels, J. (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 7
Bürgerrechte & Polizei/CILIP 92 (1/2009)
Inhaltsverzeichnis