Stockholm-Programm:
Debatte über innere Sicherheit in der EU spitzt sich zu
von Ralf Bendrath um 19:25 am Samstag, 10. Oktober 2009 | 32 Kommentare
In Brüssel spitzt sich diesen Herbst die Diskussion über die Zukunft der europäischen Innen- und Justizpolitik zu. Während die Innenminister im Rat immer weitere Befugnisse wollen, regt sich im Parlament mittlerweile Widerstand gegen eine Europäische Überwachungsunion.
Aufrüstung der Inneren Sicherheit in 5-Jahres-Schritten
Die Europäische Union macht seit 1999 immer fünf-Jahres-Pläne für den Bereich der Polizei- und Justiz-Zusammenarbeit. Daraus werden dann Aktionsprogramme entwickelt, die in konkreten Richtlinien und Projekten münden. In den letzten Jahren gehörten dazu unter anderem die Vorratsdatenspeicherung, die EURODAC-Datenbank mit Fingerabdrücken von Asylbewerbern, das Schengen-Informationssystem II, die biometrischen Reisepässe und ähnliche Projekte. Das derzeit geltende “Haager Programm” läuft Ende des Jahres aus.
Ab 2010 soll dann bis 2014 das “Stockholm-Programm” gelten, das derzeit von der schwedischen Präsidentschaft mit den anderen Regierungen verhandelt wird. Die Kommission hat im Juni eine Vorlage dafür gemacht, und die Vorarbeiten liefen im Rahmen der berüchtigten “Future Group”, einer informellen Arbeitsgruppe der Innenminister, die Wolfgang Schäuble unter der deutschen Ratspräsidentschaft eingerichtet hatte. Endgültig verabschiedet werden soll das Stockholm-Programm auf dem EU-Gipfeltreffen Anfang Dezember in Brüssel.
Auf dem Weg zur Europäischen Überwachungsunion?
Neben einigen sinnvollen Ideen wie einer besseren Harmonisierung des europäischen Familienrechts besteht das Stockholm-Programm derzeit aus einem Sammelsurium von Überwachung und Grenzabschottung. Auf den ersten Blick wird zwar betont, dass der Bürger und seine Rechte im Zentrum der Erwägungen stehen müssen, aber bei genauerem Hinsehen merkt man schnell, dass er vor allem in Zentrum der Überwachung stehen soll.
Während das Haager Programm das“Prinzip der Verfügbarkeit” einführte, nach dem den Strafverfolgern in ganz Europa die Daten ihrer Kollegen grundsätzlich verfügbar gemacht werden sollen, geht man nun einen Schritt weiter zum “Prinzip des Zugriffs”. Damit soll der Zugriff in Teilen automatisiert geschehen, und viele Datenbanken, die ursprünglich für ganz andere Zwecke aufgebaut wurden (Asylanträge, Visa und Reisen, Zollkooperation und anderes), sollen für EUROPOL und die nationalen Polizeibehörden offenstehen. Auch im Zuge der SWIFT-Verhandlungen mit den USA wird derzeit hinter verschlossenen Türen diskutiert, ob die EU nicht auch selber sämtliche Banküberweisungen in Europa überwachen und auswerten soll. Für all das sollen auch gemeinsame IT-Standards entwickelt werden, damit die Rasterfahndung und der automatische Abgleich noch ungebremster von statten gehen können. EUROPOL soll zu einer zentralen Informationssammel- und auswertebehörde ausgebaut werden. Auch mit Drittstaaten soll Europol Abkommen schließen können, die den Austausch personenbezogener Daten beinhalten.
Eine Reihe der im Entwurf der Kommission noch grob skizzierten Maßnahmen ist bereits vor der Verabschiedung des Stockholm-Programms in konkrete Gesetzgebungsvorschläge übersetzt worden und wird derzeit schon in Brüssel verhandelt. Dazu gehört unter anderem die IT-Agentur für den Betrieb der ganzen Datenhalden, der Zugriff von EUROPOL auf diverse andere Datenbanken wie die EURODAC-Fingerabdrücke oder die Zolldaten, der Datenaustausch zwischen EUROPOL und mit Drittstaaten (die aktuelle Liste umfasst neben der Schweiz, Norwegen, den USA und Kanada auch Länder wie Marokko, Kolumbien, Russland oder China!) und einiges mehr. Die Sperrung von Webseiten, die Kinderpornografie enthalten, ist auch bereits in der Mache.
Warum diese Eile? Warum wartet man nicht, bis im Dezember die Staats- und Regierungschefs der EU das Stockholm-Programm endgültig abgesegnet haben und dann in Ruhe ein Aktionsprogramm daraus entwickelt wurde? Diese Eile liegt am Lissabon-Vertrag, dessen baldiges Inkrafttreten mit dem irischen “ja” vor einer Woche so gut wie sicher ist und für Anfang 2010 erwartet wird. Dann nämlich hat das Europäische Parlament endlich auch ein Veto-Recht im Bereich Justiz- und Polizeizusammenarbeit. Dieser Bereich war bisher den Regierungen vorbehalten, das Parlament wurde nur konsultiert.
Welches Europa wollen wir?
Die Europa-Abgeordneten sind traditionell etwas bürgerrechtsfreundlicher als der Rat der Regierungen, weil in letzterem vor allem die Innenminister den Ton angeben. Und sie sind im Vorgriff auf den Lissabon-Vertrag deutlich selbstbewusster geworden und verlangen schon jetzt Mitspracherechte oder ein Vertagen der Überwachungsvorhaben, bis das Parlament mit darüber bestimmen darf. Die Debatten im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) seit der Sommerpause über die oben genannten Vorhaben zeigen bereits, dass eine wachsende Zahl der Abgeordneten ein deutliches Unbehagen gegenüber noch mehr Überwachung und Datensammlung verspürt. Dies gilt übrigens nicht nur für die Grünen oder Liberalen, sondern man hört skeptische Stimmen auch von Sozialdemokraten und sogar Konservativen.
Die Vorsitzenden der Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, für Recht und für Verfassungsangelegenheiten haben diese Woche nun den Entwurf einer Resolution des Europaparlaments zum Stockholm-Programm vorgelegt, der am Donnerstag gemeinsam mit Vertretern der nationalen Parlamente diskutiert wurde. Der Text ist etwas weniger überwachungsfreundlich als der Entwurf aus der Kommission, hat aber immer noch merkwürdige Stellen drin. So wird immer noch davon geredet, dass Sicherheit und Freiheit “ausbalanciert” werden sollten – als gäbe es keinen Kernbereich von Grundrechten, die solchen Abwägungen nicht zugänglich sein dürfen, und als würde Sicherheit immer notwendigerweise mit Freiheitsbeschränkungen hegergestellt werden müssen. Viele Abgeordnete haben daher auch Änderungsanträge angekündigt.
Hier wird sich in den nächsten Wochen daher die Diskussion über die Frage zuspitzen, die bereits durch die ganzen Einzelmaßnahmen in der Luft liegt: Welches Europa wollen wir? Eines von Überwachung und Misstrauen, von Generalverdacht und flächendeckender Speicherung und Auswertung harmloser und legaler Aktivitäten, eines in dem die Sicherheitsbehörden immer mehr Wissen und damit Macht bekommen? Oder ein Europa, das die Bürger- und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt, Grundrechtsbeschränkungen nur im Einzelfall nach richterlicher Überprüfung erlaubt, und generell von Offenheit und Vertrauen gekennzeichnet ist?
NGOs und Aktivisten mischen sich ein
Dass diese Debatte von großer Bedeutung ist, sieht man auch daran, wie sich die Zivilgesellschaft hier einmischt. Während beim Haager Programm vor fünf Jahren nur ganz wenige Expertenvereine Stellungnahmen eingereicht haben, wird man beim Stockholm-Programm förmlich erschlagen von Hintergrundpapieren, Kommentaren und anderen Interventionen. Von amnesty international über die Europäische Menschenrechtsliga und diverse Flüchtlingsverbände, den Deutschen Anwaltverein, die britische Rechtsvereinigung, bis hin zum Deutschen Industrie- und Handelskammertag findet man teils knappe und zugespitzte Kommentare, teils längere Hintergrundpapiere. Auch diverse nationale Parlamente, der Europäische Datenschutzbeauftragte und die EU-Grundrechteagentur haben sich zum Thema geäußert. Überwiegend gehen die Dokumente in Richtung “mehr Rechtsstaat, weniger Überwachung”. (Update: Auf Telepolis gab es vor ein paar Wochen einen Artikel dazu, der u.a. die wichtigsten Stellungnahmen kurz zusammenfasst.)
Auch Aktivistengruppen aus dem Antirepressions- und Flüchtlingsbereich haben sich mit dem Stockholm-Programm intensiv befasst. Gipfelsoli macht seit ungefähr einem Jahr eine Kampagne dazu, das internationale “No-Border”-Camp in Lesbos im August hat zu den Grenzabschottungs-Aspekten (die hier nicht so ausführlich behandelt werden konnten) intensiv gearbeitet, und seit kurzem gibt es ja die Kampagne “Reclaim your Data!” zu den EU-Datenbanken, zu der netzpolitik.org auch mit aufruft (ein Bericht von der Auftaktveranstaltung am 1. Oktober ist hier). Für den EU-Gipfel zur Verabschiedung des Stockholm-Programmes im Dezember in Brüssel werden bereits Protestaktionen geplant.
Langsam tut sich also die Bürgerrechtsbewegung auch auf europäischer Ebene zusammen. Projektbezogen gibt es das zwar immer mal wieder, aber was noch fehlt, sind festere Strukturen der Zusammenarbeit, die auch kontinuierlich mit Leben gefüllt werden.EDRi oder ECLNhaben zwar eine Reihe von Mitgliedern, aber viel mehr als ein Austausch über die einzelnen Aktivitäten auf den nationalen Ebenen läuft da auch noch nicht wirklich (bei EDRi könnte sich das ändern, seit dort wieder jemand in Brüssel fest angestellt ist). Und eine Wissensdatenbank wäre schön, etwa in Form eines Wikis. Statewatch.orgsammelt zwar (auf der “unübersichtlichsten Website der Welt”, so Matthias von Gipfelsoli auf der SIGINT) ganz viele offizielle Dokumente zu diesem Bereich, aber es gibt z.B. noch keinen wirklich guten Überblick der gesamten Aktivitäten von Bürgerrechtlern und Aktivisten oder eine Materialsammlung.
Quelle: www.netzpolitik.org