Ende Mai 2007 trafen sich Experten aus aller Welt zum vierten Mal in Ettlingen, um neue Konzepte zur Lösung von Konflikten im öffentlichen Raum zu diskutieren. Anfang Juni in Heiligendamm konnte die Theorie der Polizeitechniker im Praxistest überprüft werden.
Mit bayrischer Blasmusik will die Bundeswehr in Afghanistan friedlich Konflikte lösen. An der Heimatfront tut dies bereits das "Schwabinggrad Ballet" aus Hamburg. Ein Vergleich von Konferenz und Realität in Rostocks Innenstadt ergibt zwei sehr unterschiedliche Versionen davon, wie man die angeblich bestehende "Lücke zwischen Schrei und Schuss" schließen möchte.
Doch eins kann als sicher gelten: zur "Deeskalation durch Stärke" (Günter Beckstein) ist alle Hochtechnologie überflüssig. Solange die Polizei über zwei Hubschrauber verfügt, braucht sie keine anderen Schallwaffen. Chilipfeffer ist effektiver als Mikrowellenstrahler, weil der brennende Effekt viel länger anhält als der Schmerz aus einem "elektronischen Personen-Kontroll-Gerät".
Wo die Ansicht zu ihrem Recht kommt, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden muss, dass gegen Steine nur Wuchtgeschosse, Gas und Strom helfen, dort erhalten Medien und konservative Politiker genau die Bilder, die sie benötigen, um nie wieder über die Anliegen der Demonstranten sprechen zu müssen, sondern nur noch über Polizei und Sicherheit.
"Waffen, die wirken sollen, müssen auch weh tun dürfen", sagte am Montag nach der Schlacht Rainer Wendt von der Polizeigewerkschaft. Wer bessere Technik zur Lösung der Konflikte empfiehlt, interessiert sich nicht für Inhalte und Gründe sozialer Spannungen.
Der hohe Tonfall, in dem nun "drastische Konsequenzen" gefordert werden, ist Teil eines Eskalationsplanes derer, die über die Ursachen des Widerstandes nicht nachdenken möchten.
Der Polizist als Gärtner
"Am Strande", Rostock, 3. Juni gegen 16 Uhr: Eine "Schildkröte" schiebt sich durch die Menge, ein dicht gepacktes Paket von allseitig mit Schilden abgeschirmten Spezialeinsatzkräften der Polizei. Anders als ihr Vorbild aus dem Tierreich hat die taktische Schildkröte rundum Augen. Wie ein atmender Räumpanzer treibt sie aufgeregte Jugendliche mit Mundtüchern und Basecaps vor sich her. Die Schildkröte rückt im Marschschritt gegen die Schar von wütenden Halbwüchsigen an, die ihre oftmals nagelneuen, ebenfalls tiefschwarzen Klamotten ruinieren, während sie über das weitläufige Spielbrett am Ufer der Warne spurten, mit allem schmeißen, was sie aufsammeln können und den einzigen Text ihres Bürgerkriegs-Theaters skandieren: Haut ab - haut ab - haut ab. Weil auch sie in Farbe und Auftritt massiv wirken, werden sie "der schwarze Block" genannt.
Die Schildkröte und der Block bestellen gemeinsam den Boden. Wie Eggen ziehen sie ihre Bahnen durch das bunte Kraut der übrigen G8-Protestler, musikalisch begleitet von der Hamburger Schlachtenband mit dem schönen Namen "Schwabinggrad Ballet".
Die Methoden von Block und Schildkröte differieren ablauftechnisch, doch ihr Ziel ist gleich: das Andere muss weg. Da hilft nur Gewalt. Ein Polizist in schwarzem durchstichsicheren Drillich stapft, in der Leichtigkeit seiner kraftvollen Bewegungen etwas behindert durch die massiven, skelettartig gegliederten Beinschienen und einen monumentalen Brustpanzer, einige Meter aus dem Schutz der Schildkröte heraus, ein aggressiver Kopf, der für Sekunden ohne Verbindung zum Körper ist. Aus einem schweren Druckbehälter auf seinem Rücken sprüht der Polizist ätzendes, mit Chilipfeffer angereichertes Gas auf die vor ihm herumwirbelnden Demonstranten, als wolle er lästige Insekten vertilgen. Er rückt den Demonstranten wie der Gärtner zuleibe, den der polnische Philosoph Zygmunt Baumann als Metapher für den Staat benutzt. Der Heger des Gartens erkennt das Unkraut und entfernt es vom gesellschaftlichen Feld. Der Plan des Gärtners schließt ein Eigenleben von Pflanzen grundsätzlich aus.
Ein Feld in vielerlei Hinsicht wurde für die finale Versammlung der Globalisierungsgegner gewählt, ein Feld mit Assoziationen wie Schlacht oder Aufmarsch. Viel Schutt liegt hier lose auf mäßig verdichtetem Boden parat. Kein einziger Mülleimer ist zu finden auf dem einige Hektar großen Gelände. Deswegen, und weil der Platz gesäumt ist von Bierbuden und Räucherfisch-Ständen, sieht es hier schon, bevor es losgeht, wie nach dem Fest aus. Man kann es als subtile Strategie werten, dass die Besucher der Abschlusskundgebung ihr eigenes "Gehege" verunreinigen müssen. Doch bereits der Weg dorthin ist ein Spießrutenlauf, der die Stimmung anheizt.
Die Feinde
Zur martialischen Geste, mit der dem Widerstand der Globalisierungs-"Feinde" begegnet wird, zählt - neben einer von der Polizei wohl arrangierten Führung durch die Stadt, die den Zug der Demonstranten mehrmals von der asphaltierten Straße hinunter durchs geschotterte Gleisbett der Straßenbahn leitet, wo reichlich Steine tanken kann, wer welche werfen möchte - vor allem die pointiert platzierte Präsentation von schwerem Gerät und Personenschutzausstattung. Besonders an ihr wird die Bedrohung sinnbildlich sichtbar. Der Stadtplan von Rostock mit seinen vom Kern her sternförmig zur Marschroute führenden Straßen bietet der Polizei alle Gelegenheit, immer wieder unversehens seitlich aufzutauchen. In einer Durchfahrt unter dem Radisson Hotel stecken Räumpanzer wie Geschosse in einem Rohr. Ein dort geparkter Armee-Jeep lässt die Vermutung aufkeimen, dass LRAD, das ‘long range acoustic device’, eine schmerzhaft wirkende Soundwaffe, doch zum Einsatz kommen könnte: so hatte es ja schon die Bildzeitung prophezeit.
Wer sich in dem mobilen Kessel, umschlossen von einer lebenden Mauer aus Rüstungen, nicht wie eine Gefahr für Leib und Leben anderer vorkommt, muss schon ein sehr gesundes Verständnis von der Berechtigung seiner Anwesenheit im öffentlichen Raum mitbringen. Statt wie Hans Magnus Enzensberger von einem "molekularen Bürgerkrieg" sollte man angesichts dieser Parade von Schutzkleidung besser von einem "maskierten Bürgerkrieg" sprechen.
Man kann sich, nachdem man zwei, drei Stunden durch diesen Kanal aus vorübergehend eingefrorener staatlicher Gewaltbereitschaft gelaufen ist des Eindrucks nicht erwehren, dass sich etliche der angeblich 430 während der "Kampfhandlungen" verletzten Polizisten einen Bruch an ihrer eigenen Bewaffnung gehoben haben müssen. Schon zwei Tage später wird die Zahl annulliert - so muss man es angesichts des tatsächlichen Ausmaßes an Verletzungen (drei Beamte mussten im Krankenhaus behandelt werden) wohl nennen. Allerdings: die Unbeweglichkeit der Polizeikräfte in ihren Schalen habe dazu beigetragen, dass der Einsatz uneffektiv und gesundheitlich riskant blieb, hörte man.
Blasmusik
Montag, 21. Mai, Ettlingen an der Alb: Mit einem Workshop des kritischen Physikers Jürgen Altmann eröffnet das 4. internationale Symposion zur Zukunft der "nicht-tödlichen Wirkmittel" des Fraunhofer Instituts für Chemische Technologie. Es geht um Schallwaffen. Ob sie effektiv sind zur Beherrschung von Krawall? Michael Murphy, der seit Jahren dem Programm der US-Airforce für hochenergetische Mikrowellenwaffen angehört, referiert die Ergebnisse eines Schallwaffen-Versuchs an Affen. Leider habe man die erwünschte Wirkung, das aufmüpfige Verhalten der Affen zu ändern, nicht erzielen können, denn nach dem ersten akustischen Impuls seien alle Affen taub gewesen.
Nachdem das Gelächter der Anwesenden sich wieder beruhigt hat, setzt Carlton Land vom Pentagon mit einer 70er-Jahre-Idee von "Friedenstechnologie" nach: Effektivität sei zwar ein wichtiger Ansatz, doch sei sie nicht nur über Schalldruck zu gewährleisten. Man solle Schallwaffen besser als Mittel einsetzen, um die Gegenseite vorübergehend zu besänftigen. Dadurch gewinne man Zeit zur Vorbereitung "besserer Optionen".
Franz Wolf von der Wehrtechnischen Dienststelle für Schutz und Sondertechnik (WTD 52 der Deutschen Bundeswehr in Schneizlreuth) schlägt vor, ethnische Differenzen künftig extensiver für die Vertreibung von Randalierern und Demonstranten aus dem öffentlichen Raum zu nutzen. Nach seiner Einschätzung tauge beispielsweise bayrische Blasmusik ausgezeichnet zur Einschüchterung von Unruhestiftern bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr wie in Afghanistan. Dort kenne man solche Musik nicht. Sie wirke sicherlich sehr abschreckend. Auf Nachfrage, ob die Bundeswehr ein entsprechendes Programm zur praktischen Erhärtung solcher Thesen aufgelegt habe, zog sich Wolf leider darauf zurück, dass dies der Geheimhaltung unterliege.
Man mag es kaum ernsthaft diskutieren, aber bereits der Ansatz der Bundeswehr ist mehr als fraglich: wenn es eine universelle Sprache gibt, ist dies die Musik. Zwar ist die Herkunft der Blasmusik aus dem Krieg unbestritten, doch dient sie der Motivation, nicht der Verstörung. Wegen ihrer ganz sicher kulturübergreifenden ballistischen Qualitäten stehen allerdings Pfeifen und Hörner nicht umsonst am Anfang aller nicht-tödlichen Techniken, die jede Polizei der Welt zur Erzwingung von Gehorsam nutzt. Rock-Musik von Frank Zappa, wie sie 1990 erfolgreich zur Kapitulation von Manuel Antonio Noriega, dem panamaischen Geheimdienstchef, Drogenhändler und CIA-Mitarbeiter eingesetzt wurde, der sich in der vatikanischen Botschaft verschanzt hatte, bezieht ihre Wirkung aus der schlafstörenden, zermürbenden Dauerbeschallung, nicht aus dem Unterschied der Hörgewohnheiten zwischen Mittel- und Nordamerika.
Angriff der Salat-Guerilla
Je länger man den Beiträgen in Ettlingen lauscht, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, die Forscher und Entwickler gehörten zur Fraktion der "Spaß-Polizei". So berichtet beispielsweise der Mediziner Prof. E. David von der ZEPU GmbH aus Witten/Herdecke, er habe im Dienst der Forschung ein Kotelett getasert, es also mit einem 50.000-Volt-Elektroschocker beschossen. Ferner habe er auch die Fische aus dem Aquarium seiner Kinder einem "inhomogenen elektrischen Feld" ausgesetzt. Wer fühlt sich da nicht an Monthy Pythons legendären "Witz als tödliche Waffe" erinnert?
Eine echte Spaßguerilla ist denn auch vertreten: in einem Film von TNO Defence Safety and Security aus Soesterberg, Niederlande, greift sie mit Salatköpfen Soldaten an. Was wie ein "Reenactment" mit Schauspielern wirkt, dient der Beweisführung, wie wichtig ein spezielles Training sei, um kritische Einsätze wirklich deeskalierend führen zu können.
Was in den annähernd 30 Beiträgen und ebenso vielen Poster-Präsentationen sonst noch so mit Schwein, Maus, Ratte, Kaninchen und den völlig wehrlosen Hefepilzen getrieben wurde, kann man sich ausmalen.
Die Krönung des Programms besteht allerdings in einem Beitrag, der es wert ist, näher betrachtet zu werden: Jitka Schreiberova von der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivpflege der Karls-Universität in Prag berichtet von ihrem mit staatlichen Mitteln geförderten Projekt zur Untersuchung der Wirkung von aggressionsmindernden Pharmazeutika auf Primaten.
Sie hat Makaken verschiedene Opioide verabreicht und führt in Filmausschnitten eindrucksvoll vor, dass innerhalb weniger Minuten jeglicher Wille gebrochen wurde. Ihr Vorschlag: einige Mittel wie Midazolam, Naphtylmedetomidin und etliche Ketamine seien als Mitteln zur "crowd control", zur Besänftigung von Aufrührern, durchaus geeignet. Abgesehen davon, dass Schreiberova naheliegende Fragestellungen überhaupt nicht behandelt, wie etwa den Widerspruch ihrer Vorschläge zur Genfer Konvention, wurde auch das praktische Thema der "Verabreichung" nicht tangiert. Sollen Polizisten etwa künftig mit Betäubungsgewehren Spritzen verschießen? Ein Schluss, den Schreiberovas enge Zusammenarbeit mit Ladislav Hess nahe legt, der im Prager Zoo in der Großwildanästhesie tätig war.
"Voodoo Science"
Beiträge wie der von Schreiberova, die von mangelnder Domestikation ihrer Versuchstiere (aggressiver Affe) auf mangelnde Zivilisation der aufsässigen Bürger schließt, die sie mit Opiaten traktieren möchte, lädieren das Ansehen seriöser Forschung, die das Symposium durchaus auch zu bieten hatte, erheblich. Sie sind - wie es ein anderer Vortragender mit Blick auf die Kritiker der neuen Wirkmittel gesagt hat - "voodoo science": eine Mischung aus Irrweg und Verteufelung.
Schreiberova bemäntelt ihren himmelschreienden Unsinn im Stil einer Soziobiologin, die im Einzelfall die Spritze ansetzen will, wenn soziale Spannungen unerträglich werden, mit wissenschaftlicher Objektivität, um damit Rechtfertigung und Erlaubnis zum Eingriff in den Willen freier Bürger zu erhalten: ein Akt, der ansonsten - außerhalb ihrer "Wissenschaft" - als Straftat gälte.
Doch ganz so absurd und abwegig, wie dieses Thema scheinen mag, ist es nicht. Die Ereignisse in Moskau rund um die Befreiung von 700 Geiseln aus der Hand tschetschenischer Terroristen sind bis heute unvergessen. Noch streitet die Fachwelt, ob es ein Erfolg war (550 Überlebende) oder eines der größten Desaster moderner Terrorabwehr (150 Tote).
Am Tag von Schreiberovas Vortrag erschien der umfängliche Bericht der British Medical Association über den Einsatz von "Medikamenten als Waffen".
Der Bericht legt anhand zahlreicher Beispiele nicht nur aus der tschechischen Republik, auch aus Großbritannien und den USA ein zunehmendes Interesse von Regierungen am Einsatz "taktischer Pharmazeutika" dar. So genannte "riot control agents" wie schnell wirkende Beruhigungsmittel und weniger gefährliche Mikroben und Stinkgase zählen ohnehin schon längst zum Arsenal von Polizei und Militär. Malcolm Dando von der Bradford Universität für Friedensforschung spricht gar von einer "unmittelbar bevorstehenden Militarisierung der Neurobiologie".
Die Lücke
Warum diskutieren die Forscher und Praktiker bei Polizei und Militär auf der Ettlinger Konferenz immer wieder über Mittel zur Verhaltensänderung? Man könnte darauf mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum antworten: "Die Gefahr geht vom Menschen aus." Es geht eben nicht um die Abwehr von Schaden, sondern um eine Umerziehung der Abtrünnigen des Kapitalismus, der "Überflüssigen", wie sich manche G8-Gegner ironisch selber nennen.
Welche Rolle spielt dabei das Szenario, das technisch als "area denial", als dringende Notwendigkeit zur Versiegelung sensibler Zonen beschrieben wird? Mit den bereits vorhandenen Mitteln, deren Einsatz die Konferenzteilnehmer diskutierten, wie dem "Active Denial System" (einer Mikrowellenwaffe) und dem "Taser Remote Area Denial" (einem rundum Lähmungspfeile verschießenden Dreifuß) wird der Crashkurs in Sachen politischer Widerstand perfektioniert: nach einer Sekunde hat man vollständig und nachhaltig verstanden, was man besser nie wieder tun sollte. Die "maximalen Schmerzen", die den Waffen ihren englischen Sammelnamen geben, stehen dabei für ein Programm der radikalen Verkürzung der Lernzeit. Oder wie Kirk Hymes vom Pentagon es formuliert: wer sich einmal einen Sonnenbrand geholt hat, geht doch nicht gleich wieder raus und verbrennt sich freiwillig noch einmal.
Nicht am schützenswerten Gegenstand (der Konferenz der acht Regierungsoberhäupter), sondern am Aufgebot der Schutzmaßnahmen wird die Gefahr erkennbar. Insofern ist ein komplexes Szenario nötig, denn die Bedrohung soll als allgegenwärtig erkannt werden. Deswegen gehört alles zum Szenario: nicht nur der Zaun, die Zahl der Polizisten und ihre Ausrüstung, sondern auch die ganze Palette der "maskierten Gewalt" wie das Abschalten von Handynetzen, die Verpflichtung der Deutschen Bahn, Reisegruppen mit bestimmten Zielen zu melden, die Speicherung von Identifikationsdaten privater Rechner, die sich über Web.24 eine Landkarte von Rostock ausdrucken wollen. Auch Razzien und andere Formen einer Kriminalisierung vor Fahrtantritt haben wochenlang zu diesem Szenario gehört. Nicht zuletzt zeigt auch die beim Verfassungsgericht anhängige Klage, dass alle Register der Ausgrenzung gezogen wurden. Doch warum fürchtet ein so starker Staat wie Deutschland diese Handvoll Kritiker so sehr?
Dem Ruf nach stets effektiveren Mitteln, wie er in Ettlingen täglich mehrfach zu hören war, musste eine Definition der Bedrohung als stets größer werdende Gefahr vorausgehen. Der Wille zum gewaltsam herbeigeführten Wandel auf der Seite der Globalisierungsgegner, so das Argument der Autoren der Katastrophen-Szenarios, sei so heftig, dass er Mittel mit höchster Wirksamkeit nötig mache, denen niemand sich mehr widersetzen könne. Es soll physisch - und durch absehbare Traumata - auch psychisch unmöglich sein, Widerstand zu leisten. Nur so kann man die Falschmeldungen quer durch die deutsche Presse interpretieren: dieses Ausmaß der Gewalt sei nie zuvor da gewesen.
Das alles ist nachweislich herbeigeschrieben, von Journalisten und den Autoren der Szenarien. Die Verabredung ist simpel und durchschaubar: ohne solche Superlative gibt es keinen Fortschritt. Nur so lassen sich im Vergleich dazu alle Gegenmaßnahmen als notwendig, als angemessen rechtfertigen.
Der Staatsschutz fordert, jetzt müsse mit aller zu Gebote stehenden Härte die Lücke geschlossen werden. Doch die "Lücke zwischen Schrei und Schuss", zwischen Verhandeln, Sprechen, Entspannen auf der einen und Gewaltanwendung auf der anderen Seite, diese angebliche Lücke im Arsenal der Polizei zwischen Kommunikation und finalem Fangschuss, ist exakt der Raum, in dem der Bürger sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausübt. Ihre Schließung, und sei es nur technisch durch effektivere Wirkmittel, käme einer nicht hinnehmbaren Beschneidung von Grundrechten gleich.
Wer sich die Zusammensetzung der Demo in Rostock anschaut, bemerkt, dass die abschreckende Wirkung von Szenario und Arsenal bei 98% der Bevölkerung ohnehin bereits gegriffen hat. Die Lücke zwischen Schrei und Schuss ist längst nachhaltig versiegelt. Jene Bürger der "Dritten Welt", die es existenziell am meisten betrifft, was in Heiligendamm verhandelt wird, können sich ohnehin nicht erlauben, ihren Protest am Ort des Geschehens öffentlich zu artikulieren, weil es ihnen bereits am Reisebudget fehlt. Andere, denen dies finanziell keine Mühe bereiten würde, weil sie genug Geld haben und nah genug an Rostock wohnen, um dort hinzufahren und sich zu äußern zu können, tun es nicht, einer gewissen Fatalität des Kapitalismus wegen. Sie sind bequem oder sitzen lieber in Berlin, Hamburg, Hannover an Kneipentischen und wettern über "autonome Gewalt". Die übrigen Wenigen schließlich, die hingehen, werden derart atomisiert, dass sie sich selbst ungeheuer blöd vorkommen müssen, es zu wagen, nur mit ihrem Wort der Kritik bewaffnet einer solchen monumentalen technisch-strategisch hochgerüsteten Übermacht entgegen zu treten und sich wie Attentäter durch die Linien zu schleichen.
Sie werden, nachdem sie sich das Pfeffergas aus den Augen gespült haben, es beim nächsten Mal vielleicht auch nicht wieder versuchen oder nur noch vorsichtiger, noch weniger sichtbar. Oder - und das wäre für den Staat das unheilvollste Ergebnis - von Wut über die Ungerechtigkeit und Unverhältnismäßigkeit getrieben radikalisieren. Denn niemand schließt seinen Mund freiwillig, wenn er eigentlich etwas zu sagen hat.
Eine andere Lücke wird dabei oft übersehen: zum System der martialischen Gesten gehört nicht allein die Polizei. Sie ist nur Symbol einer tiefer sitzenden Ausgrenzung. Leute, die anders oder vielleicht weniger erfolgreich sind oder sich freiwillig und aus Überzeugung für ein anderes Leben entscheiden, zählen gar nichts in unserer "Kultur". Weil es aber einer guten Prozentzahl unserer Gesellschaft zur eigenen Zufriedenheit gelingt, sich einigermaßen zu arrangieren, wird gern selbst im kritischen Segment der Bevölkerung vergessen, dass auch die übrigen, die anderen, Menschen mit Rechten und Würde sind. Dabei sind es Personen, nicht Verhältnisse, die zerdrückt werden. Jene, die sich in bessere Gefilde gerettet haben, sorgen schon aus Selbstschutz dafür, dass die "Verlierer" keine Stimme erhalten. "Verlierer" werden aussortiert, als gefährlich, wenn nicht als kriminell verleumdet, als Bedrohung für die allgemeine Lage allemal. Diese Frage hätte in Rostock diskutiert werden müssen, doch wurde sie weitgehend vom toten, spektakulären Diskurs der Gewalt übertönt.
Rostock, 2. Juni, 18 Uhr:
Auf diesem weiten Feld stehen sie nun seit Stunden einander gegenüber und schlagen aufeinander ein, die ordentliche und die systemoppositionelle Gewalt, Fleisch gewordene Institutionen des gleichen Staates, die einander als Rechtfertigung für ihre jeweilige Existenz benötigen. Die Grüppchen prügellustiger Blockmitglieder lassen sich am Spielfeldrand mit Kochsalzlösung das Gift aus den Augen spülen und berichten dabei stolz die Heldentaten (soundsoviel "Bullen gefällt"). Die Polizei hat für die Veröffentlichung der gleichen Liste - etwas smarter - eine Presseabteilung.
Die "Chaoten" sind keine "potentiellen Mörder", wie Heiner Geißler es wenden möchte, falsch ableitend aus einer alten Parole der Linken über Soldaten. Die Ordnungsmacht sind keine "Mörder - Mörder", wie es in der Hysterie der Stunde aus den tausenden Kehlen der emotional Aufgewühlten gellt. Doch die Verabredung, die diese beiden "Radikale" hatten - man verstehe dieses Wort bitte im Sinne der denkbar unterschiedlichsten Pole eines Gemeinwesen, und durchaus auch im chemischen Sinn der Reaktionsanfeuerung -, die Verabredung war nicht zum Gespräch über Probleme.
Das wird gern unter den Tisch gekehrt, auch, weil man auf beiden Seiten bestehende Probleme nicht lösen, sondern Konflikte verschärfen bzw. den Status Quo ohne Diskussion befestigen möchte.
Jene Zehntausende, die mitmarschiert sind, um den öffentlichen Raum wie im Gesetz vorgesehen für den Diskurs über ihr Anliegen zu benutzen, gehen etwas benommen und genervt vom Hubschrauberlärm zu ihren Bussen zurück. Im Verhältnis zur aufgeheizten Balgerei zwischen Polizei und "Polit-Hooligans" aus ganz Europa klingen die Reden der Sprecher auf der offiziellen Bühne tönern nach, wie hohle Phrasen.
Das Gewaltmonopol
Das Nachspiel scheint wichtiger zu werden als die "Begegnung" selbst. Klagen sind anhängig gegen den Einsatz der Bundeswehr. Das Ausmaß der Amtshilfe scheint viel weiter gegangen zu sein als ursprünglich gedacht. Mehrere Agents Provocateurs sind entdeckt und überführt worden. Sie haben versucht, sehr junge, meist osteuropäische Demonstranten zur Gewalt aufzuwiegeln. Dadurch wird das Bild der Gewalt ambivalent - oder auch klarer, wenn man so will. Der Widerspruch von staatlicher und systemoppositioneller Gewalt war nach Heiligendamm der in den Medien am intensivsten diskutierte Fall. Doch es zählte schon fast zu den radikalsten Momenten dieser Debatte, dass Heiner Geißler sagte, er würde "zuschlagen", wenn ein Polizist ihn anfasst. Der Satz, wahrscheinlich kaum mehr als ein Marketing-Slogan zu Geißlers Eintritt bei ATTAC und eine "faule Ausrede", warum er trotz seiner "revolutionären" Thesen nicht am Zaun erschien, macht dennoch sichtbar, was geflissentlich unter den Teppich gekehrt wird, wenn es um Fragen der Berechtigung oder Angemessenheit von Widerstand geht.
Spätestens seit der "Lex RAF" und dem Prozess in Stammheim hätte es jedem, der die Tatsachen nicht bewusst verdrängen wollte, klar sein können, dass die Vertreter des Staates - im Stil einer autokratischen Klasse - sich skrupellos über die Verfassung stellen, wenn sie ihren Interessen widerspricht. Der Staatsschutz rechtfertigt - wie eigentlich immer seit der Entstehung des modernen Staates - jedes Mittel.
Wer darüber hinaus die Entwicklung seit 1989 verfolgt hat, konnte kaum übersehen, dass mit der neuen "Normalität" und den "Reformen" so ziemlich alles über Bord geworfen wurde, was die Politiker nach Nationalsozialismus und Weltkrieg der Weltöffentlichkeit an Reuebekundungen und guten Vorsätzen schuldig zu sein glaubten. Nun sind es die "Zwänge der Globalisierung" und der "Terrorismus", die als Rechtfertigung dafür herhalten müssen, dass man sich über die Bedürfnisse der Menschen und das Kriegsverbot des Grundgesetzes hinwegsetzt.
Wie soll sich der Bürger gegen die Missachtung seiner Wünsche und Bedürfnisse und der Verfassung angemessen wehren? Friedliche Demonstrationen bewirken kaum etwas. Auch ein wachsender Wahlboykott scheint die Politiker kaum zu beeindrucken. In Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes heißt es zwar: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Doch wie lässt sich dieses Recht auf Widerstand praktizieren? Keine herrschende oder davon profitierende Klasse wird ihren Bürgern zugestehen, die Bedingungen für einen solchen Widerstand seien bereits erfüllt. Eher wird man wie in Heiligendamm Polizei und Bundeswehr aufmarschieren lassen, um den Bürgern zu signalisieren, wie der Staat auf jede Form des Widerstandes zu reagieren bereit ist. Dann kann der Gärtner endlich seine Arbeit tun.
Olaf Arndt und Ludwig Schönenbach
Quelle: www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/2007/3/eine_andere_gewalt_ist_moeglich